Porträt: Der unbequeme Nationaldichter

Lübeck (dpa) - Den Begriff „Nationaldichter“ hat Günter Grass zeitlebens abgelehnt. Dennoch spiegelt sich im Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers die jüngere deutsche Geschichte - mit all ihren Brüchen, Kontroversen und…
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Günter Grass auf der Frankfurter Buchmesse 2006.Foto: Boris Roessler/dpa
Epoch Times13. April 2015
Den Begriff „Nationaldichter“ hat Günter Grass zeitlebens abgelehnt. Dennoch spiegelt sich im Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers die jüngere deutsche Geschichte – mit all ihren Brüchen, Kontroversen und Verletzungen, mit Versagen und Sternstunden.

Wenige haben so polarisiert und provoziert wie er, selbst noch im hohen Alter „mit letzter Tinte“ in seinem Israel-kritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2012). Aber wenige haben auch soviel einstecken müssen wie der schnauzbärtige Kaschube aus Danzig, dem „Zunge zeigen“ – so einer seiner Buchtitel – zum Markenzeichen werden sollte.

Deutschland hat es Grass schwer gemacht und Grass wiederum Deutschland nicht leicht. Die Scham, als Jugendlicher den Nazis auf den Leim gegangen zu sein, hat den Nobelpreisträger bis zuletzt gequält. Der Literaturexperte Hanjo Kesting meinte bei einer Lesung mit Grass, man müsse dessen literarisch-künstlerisch-politisches Gesamtkunstwerk als „lebenslange Bußübung“ betrachten.

Und insofern ist mit Grass, der sich wortgewaltig wie kein anderer Schriftsteller in die Politik der Nachkriegszeit einmischte, eine Epoche zu Ende gegangen. Manche sehen Grass in seiner künstlerisch-politischen Komplexität in einer Reihe mit Goethe, Thomas Mann oder Bertolt Brecht. Grass selber hat in seinen Werken – zuletzt in „Grimms Wörter“ – immer wieder mit den Geistesgrößen der Literaturgeschichte Zwiegespräch geführt.

„Günter Grass war ein Weltliterat. Sein literarisches Vermächtnis wird neben dem von Goethe stehen“, würdigte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) den Großautor. „Günter Grass war ein einzigartiger Redner, Essayist und vor allem ein großer Geschichtenerzähler der jüngsten deutschen Geschichte – die mit allen ihren Brüchen auch seine Geschichte war. Und er hat sich an dieser Geschichte gerieben, abgearbeitet und auch manche Interpretation gefunden, die für seine Leser wie für seine Kritiker nur schwer auszuhalten war.“

Lange hatte Grass – nach Erscheinen seines Debütromans „Die Blechtrommel“ 1959 zum international bekanntesten deutschen Gegenwartsautor avanciert – auf den Nobelpreis warten müssen. Als es 1999 soweit war, sagte der Sekretär des Nobelpreiskomitees Horace Engdahl in seiner Laudatio: „Das Erscheinen der „Blechtrommel“ bedeutete die Wiedergeburt des deutschen Romans des 20. Jahrhunderts.“ Und die Oscar-gekrönte Verfilmung von Volker Schlöndorff machte Filmgeschichte.

In mehr als 60 Jahren hat Grass ein enormes künstlerisches Werk geschaffen: Lyrik, Dramen und Ballette gehören dazu, Aphorismen, Hörspiele, Essays und Novellen, große Romane und die sich einem einzigen literarischen Genre entziehenden autobiografischen Bücher.

Dazu hat Grass bis ins hohe Alter als Bildhauer, Grafiker, Maler und Zeichner gearbeitet – zu jedem seiner Bücher den Umschlag selber gestaltet und seine Werke auch selber als begnadeter Vorleser vorgetragen und auf Tonträgern eingespielt. Dem Kunststudenten Grass war in den 1950er Jahren der große Durchbruch verwehrt geblieben, weil er dem figürlichen Expressionismus treu blieb und nicht der damals modernen abstrakten Kunst huldigte.

Rückblende: Am 16. Oktober 1927 kommt „Ginterchen“ in Danzig-Langfuhr zur Welt. Die Eltern, ein deutscher Protestant und eine kaschubische Katholikin, besitzen einen Kolonialwarenladen, viele Kunden lassen anschreiben. Die Wohnung ist klein, Günter und seine Schwester Waltraud haben unter dem Fensterbrett eine eigene Ecke. Kein Bad, das Klo auf dem Flur. Katholisch wächst Grass auf, ist Messdiener. „Eine Kindheit zwischen Heiligem Geist und Hitler“, schreibt Michael Jürgs in seiner Grass-Biografie. Verwundet überlebt Grass mit 17 den Krieg, nach grauenhaften Erlebnissen.

Dass er die letzten Monate bei der Waffen-SS war, berichtet Grass erstmals 2006 in dem autobiografischen Meisterwerk „Beim Häuten der Zwiebel“ – nach mehr als 60 Jahren. Scham, ein nie zu tilgender Makel, ein Kainsmal, so Grass. Kaum einer hält die NS-Verführung des Jugendlichen für ein Problem, wohl aber wird ihm das lange Schweigen darüber angekreidet.

Den Eliten des Landes hatte er zuvor Jahrzehnte lang die Leviten gelesen. Ungezählt die Kiesingers und Filbingers, denen er eine unzureichende Aufarbeitung der NS-Zeit vorhielt. Ihm selbst brachte sein spätes Eingeständnis den Vorwurf ein, seine Glaubwürdigkeit verloren zu haben. Grass wiederum sprach von Vernichtungsversuchen, man wolle ihn mundtot machen.

Lebenshunger, Grass lebt intensiv nach dem Krieg, wie so viele seiner Generation. 1947 Steinmetzlehre in Düsseldorf, dann Studium an der Düsseldorfer und Berliner Kunsthochschule. Grass trampt nach Italien, Frankreich, die Schweiz. Und er spielt Waschbrett in einer Jazzband.

1954 heiratet er die Schweizer Ballettstudentin Anna, vier Kinder stammen aus der Ehe. Mit Anna zieht er 1956 nach Paris. Dort entsteht am Stehpult im feuchten Heizungsraum eines Hinterhofanbaus „Die Blechtrommel“. Deren kleiner Protagonist Oskar Matzerath begeistert 1958 die legendäre Autorengruppe 47. Grass trägt aus dem Manuskript vor, gewinnt den Preis von damals gewaltigen 4500 Mark.

1960 Rückkehr nach Berlin, dann Wewelsfleth und später Umzug nach Behlendorf bei Lübeck – beides in Schleswig-Holstein. Die hügelige Landschaft erinnere ihn an seine Heimat Danzig, sagt er. Dazwischen liegt eine kurze Zeit in Indien, wohin Grass auch aus Verärgerung über Anfeindungen in der Bundesrepublik gezogen war. Seine zweite Frau Ute bekam in Kalkutta gesundheitliche Probleme.

Als historische Lehre aus der Weimarer Republik, die mangels kämpferischer Demokraten gescheitert sei, sieht Grass die Pflicht zu politischem Engagement. Die Adenauer-Zeit prangert er als muffig-spießig an, seine „Blechtrommel“ wird als pornografisch abgewertet; der Bremer Senat verweigert 1959 den bereits von einer Jury zuerkannten Literaturpreis der Stadt. Grass sieht in der Bundesrepublik zu viele ehemalige Nazis wieder in hohen Ämtern. Kein Wortduell, dem Grass ausweicht. Franz Josef Strauß (CSU) attackiert die Intellektuellen im Lande und meint vor allem Grass.

In der SPD findet Grass seine politische Heimat. Reformen in kleinen Schritten, nicht der vermeintlich große Wurf einer Ideologie, lautete Grass‘ politische Überzeugung. Er unterstützt den späteren Bundeskanzler Willy Brandt und dessen Ostpolitik; die Aussöhnung mit Polen ist ihm Herzenssache, Danzig ernennt ihn später zum Ehrenbürger. Grass begleitet Brandt 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags ebenso wie nach Israel und New York. Jahrzehntelang macht Grass für die SPD Wahlkampf, tritt aber 1992 aus der Partei wegen der Verschärfung des Asylrechts aus – und unterstützt weiterhin die SPD.

Immer wieder ergreift er das Wort – auch gegen die katholische Kirche, aus der der ehemalige Messdiener austritt. In Schriftstellerverbänden oder in der Freien Akademie der Künste Berlin engagiert sich Grass für die sozialen Belange von Autoren ebenso wie für die Menschenrechte. Die Kulturstiftung des Bundes, von ihm wieder und wieder angestoßen, wird 2002 endlich Realität.

Grass will mehr Demokratie, Aufbruch und mehr globale Gerechtigkeit zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden – das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Engagement. Gegen die Invasion der USA und ihrer Verbündeten in den Irak 2003 veröffentlicht Grass über die Deutsche Presse-Agentur einen Aufruf, der sich anlehnt an Matthias Claudius Gedicht „’s ist Krieg! ’s ist Krieg!“

Die deutsche Wiedervereinigung kommt ihm zu schnell. Er sieht die Ostdeutschen über den Tisch gezogen, kritisiert, dass keine neue Verfassung erarbeitet wurde – wie im Grundgesetz vorgesehen. Im Roman „Ein weites Feld“ (1995) setzt er sich auch kritisch mit der Treuhandanstalt auseinander, deren Aufgabe es war, die DDR-Planwirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen. Während der Roman im Ausland gut ankommt, hagelt es in Deutschland Verrisse, unter anderem vom damals einflussreichsten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

Wie Thomas Mann sei Grass zum Repräsentanten deutscher Literatur, Kultur, ja in gewisser Weise Deutschlands geworden, sagte der damalige Bundespräsident Horst Köhler 2007 bei dem Festakt in Lübeck zum 80. Geburtstag des Autors. Grass habe es sich immer schwer gemacht mit seinem Land, habe gehadert, war enttäuscht. Gerade im Ringen um Deutschland sieht Köhler Grass‘ Patriotismus. Im Ausland habe er oft erlebt, „wie wichtig und wie wertvoll“ Grass‘ künstlerisches Schaffen „für das Bild Deutschlands in der Welt“ sei. „Sie haben mitgearbeitet und mitgeschrieben und mitgezeichnet am kulturellen Gesicht unseres Landes, das viele Narben und Verletzungen trägt, das aber auch freundlich sein und lachen kann.“

Hinter den oft donnergrollenden Rollen des öffentlichen Polit- und Literaturtheaters ist der Mensch Grass kaum wahrgenommen worden. Er, der von sich selbst sagte, einen Mutterkomplex zu haben. Der es Frauen nicht immer leicht gemacht hat. Von drei Partnerinnen hat Grass insgesamt sechs Kinder. Seine Frau Ute brachte selber zwei Kinder in die Patchworkfamilie mit, 1979 wurde geheiratet.

Leidenschaftlich gern kochte Grass, seine bevorzugt deftigen Essen waren nicht jedermanns Geschmack, die Liebe zum Rotwein bleibt unvergessen. Grass war ein Familientier, die Enkelschar der Patchworkfamilie wuchs im Laufe der Jahre, in vielen Sommern zu Gast im Ferienhaus mitten im Wald auf der dänischen Insel Møn.

Die Jahre mit Ute hatten feste Zyklen: Im Winter lebte er im Ferienhaus in Portugal, im Sommer auf Møn mit Badefreuden in der Ostsee. Stammsitz wurde ein altes Haus mit Arbeitsatelier in Behlendorf bei Lübeck, gelegen an einem Kanal. Dort schrieb Grass per Hand und tippte dann seine Manuskripte auf einer alten Olivetti Schreibmaschine. Oft kam Grass auch nach Berlin oder nach Hamburg. Grass, das Flüchtlingskind, fand keine richtige neue Heimat.

„Trotz allem“ hat Grass Deutschland geliebt, wie er in dem gleichnamigen Band „Eintagsfliegen“ veröffentlichten Gedicht schreibt. Trotz Waffenexporten, trotz sozialen Auseinanderdriftens und trotz der Tatsache, selber hoch verschuldet andere Länder zum Sparen zu zwingen. Die letzten beiden Strophen spiegeln die wechselseitige Bezogenheit des Autors mit seinem Land besonders deutlich: „Nach Liebe dürstendes Land,/dessen Bewohner nicht müde werden,/vernarbte Wunde zu lecken./Meiner Liebe gewisses Land,/ dem ich verhaftet bin,/notfalls als Splitter im Auge.“

(dpa)

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