Politikwissenschaftlerin über Angst-Politik: „Das spaltet die Demokratie“

„Etwas ist ja noch nicht deshalb vernünftig, weil es eine Mehrheit sagt“, erklärt Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot bei „Talk im Hangar-7“. Die Professorin an der Donauuniversität Krems war neben anderen Gästen zum Thema „Corona außer Kontrolle: Werden wir wieder weggesperrt“ am 30. Oktober geladen.
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Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot bei Talk im Hanger 7.Foto: Screenshot YouTube
Von 4. November 2020

Kontaktverbot, Quarantäne, Lockdown. Die aktuellen Maßnahmen in der Corona-Politik waren Thema bei „Talk im Hangar-7“ vom Österreicher Sender Servus-TV. Bloß weil 80 Prozent vermeintlich die Maßnahmen willkommen heißen würden, bedeute dies nicht, dass sie vernünftig seien, stellte Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in der Talkrunde klar.

„Eine Wahrheit braucht keine Mehrheit“, betonte die Professorin der Donauuniversität Krems und verdeutlicht ihre Aussage am Beispiel von Galileo Galilei. Dieser habe gesagt: „Und sie bewegt sich doch.“ Diese Auffassung hätte damals zwar nur eine kleine Minderheit vertreten, aber trotzdem habe der Forscher recht gehabt.

Das Problem sei die Polarisierung in der Gesellschaft. Als Wissenschaftlerin habe sie beobachtet, dass alle, die der Mehrheit nicht folgen, im Grunde diskreditiert und mit „Covidioten“ oder Ähnlichem bezeichnet werden. Das sei ein Problem. „Es entschwindet der legitime Grund für Kritik. Jeder der kritisiert, ist im Prinzip unvernünftig“, fasst sie die aktuelle Situation zusammen. Man würde versuchen, eine kleine Minderheit der vermeintlichen Unvernunft zu bekehren. „Das spaltet die Demokratie.“

Außerdem geht es Guérot um die Begrifflichkeiten:

Wir reden jetzt schon von der zweiten Welle. Für Deutschland könnte man sagen, dass es eine erste Welle nie gegeben hat.“

Die Wissenschaftlerin begründet ihre Aussage mit der Untersterblichkeit im Land. Außerdem sei der Begriff „Welle“ schon an sich problematisch, weil er ein Angstsyndrom auslöse. Zudem sehe sie keine Korrelation und Kausalitäten. Die Länder mit dem stärksten Lockdown wie Spanien und Italien hätten gleichzeitig die höchsten Fallzahlen. Insofern könne man die Frage stellen, ob die Maßnahmen geeignet seien, um die Fallzahlen zu senken.

Jeder habe in der Diskussion zum Thema Corona seine Daten. Schon deshalb gebe es einen „großen Datensalat“. Die Frage sei, wie man damit umgehe, dass in einer monokausal funktionierenden Diskussion andere Stimmen fast nicht mehr gehört werden.

Zur Gesellschaft gehören 100 Prozent, nicht nur die Risikogruppe

Wenn ich jetzt auch in diese Sendung gucke, haben wir die ersten 20 Minuten eigentlich damit verbracht, auf im Grunde maximal zwei Prozent der Bevölkerung zu schauen – nämlich die potenzielle Risikogruppe von COVID-19.“

Über 98 Prozent der Bevölkerung werde selten diskutiert; das seien die Kinder, die „Bildungsverlierer“, die Frauen, die vor allem sozial unteren Schichte und so weiter. Als Politikwissenschaftlerin schaue sie immer auf 100 Prozent der Gesellschaft und würde gerne, dass 100 Prozent der Gesellschaft in ihrer Befindlichkeit vorkommen.

Seit sechs Monaten würde man jedoch eine „Single-Issue-Gesellschaft“ betreiben, in der es eigentlich nur noch ein Thema gebe: COVID-19. Das gefährde den politischen Prozess. Das sehe man daran, dass der CDU-Parteitag verschoben wurde. Man habe „latente Verunsicherungen in der Gesellschaft“.

Auch die Auffassung, dass es eine „vermeintlich große Akzeptanz der Maßnahmen“, sei kein Kriterium, dass die Maßnahmen vernünftig seien oder irgendeine Wahrheit ausdrücken.

Wenn 80 Prozent den Maßnahmen zustimmen würden, frage sie sich als Politikwissenschaftlerin als erstes: „Wie kann das sein? Normalerweise können sich vier Leute nicht auf ein Urlaubsziel einigen, aber diesmal haben wir 80 Prozent Zustimmung.“ Da müsse etwas anderes als Vernunft dahinter stehen, erklärte sie. Normalerweise habe man keine 80 Prozent geschlossene Meinungsdecken.

Politik der Angst

Vieles würde dafür sprechen, dass der Zustimmung die Angst zugrunde liege. Als Beispiel nannte sie eine Aussage des französischen Regierungschefs Emmanuel Macron. Er prophezeite 400.000 COVID-19-Patienten, falls man keinen Lockdown mache.

Diese Zahl ist natürlich extraorbitant und im Grunde genommen überhaupt nicht gedeckt“, fährt die Politikwissenschaftlerin fort. „Aber mit dieser Zahl kann man natürlich einen Angstdiskurs schüren.“

Dass man vor diesem Hintergrund eine Akzeptanz von Maßnahmen habe, erscheine ihr plausibel. Das bedeute aber nicht, dass die Zahlen plausibel oder die Maßnahmen vernünftig seien.

Mit den mathematischen Modellrechnungen würde man eine „Scheinrationalität“ erzeugen, wobei andere Mathematiker auch sagen würden, dass eine exponentielle Steigerung nicht immer weitergehe. Es könne von 50, auf 100 und auf 200 steigen, aber vielleicht flache die Kurve auch wieder ab. Und genau das sei im Deutschland im Frühjahr passiert.

Aber auf die „Zahlenspiele“ wolle sich Guérot auch gar nicht einlassen. Was sie besorgt, sei der Umstand, dass man nicht auf 100 Prozent der Gesellschaft schaue. Die gesamten Nebeneffekte und Kollateralschäden würden nicht in der gleichen Dichte benannt werden, wie sie benannt werden sollten.

Kritisiert wurde die Politikwissenschaftlerin von dem ärztlichen Direktor des Krankenhauses Schwarzach, Andreas Valentin, bezüglich ihrer Erklärung, wie die 80 Prozent Zustimmung zu den Maßnahmen entstanden sein könnten. „Man kann es auch so interpretieren, dass die 80 Prozent etwas verstanden haben, dass Sie, glaube ich, nicht verstanden haben: Dass es nicht allein um die zwei Prozent geht, sondern dass es natürlich um die 100 Prozent geht.“

Wenn die zwei Prozent krank und das gesamte Gesundheitssystem belasten würden, wäre auch die Gesundheitsversorgung der anderen 98 Prozent eingeschränkt. Es gehe darum, das Gesundheitswesen für alle aufrechtzuerhalten.

Intensivbetten-Reduktion im Rahmen der letzten Banken- und Eurokrise

Das habe sie verstanden, stimmt Guérot zu. Allerdings gebe es in Deutschland 28.000 Intensivbetten, „von denen sind heute 1.058* belegt“. Insoweit gebe es also keinen Gesundheitsnotstand in der Bundesrepublik. Hypothesen, von steigenden Intensivpatienten, wie Valentin sie anführe, seien nicht belegt. Aus diesem Grund bleibe sie dabei:

Wir haben heute keinen Notstand.“

Die Reduktion der Intensivbetten in Europa, auch in Frankreich, Italien und Spanien seien ein Produkt der letzten Banken- und Eurokrise, wonach Maßnahmen getroffen wurden, die zentral auf den Abbau von öffentlichen Krankenhäusern abgezielt hätten. Noch kurz vor Corona sei aus einer Bertelsmann-Studie hervorgegangen, dass 6.000 Krankenhausbetten abgebaut werden sollten. Jetzt wäre man eines Besseren belehrt worden.

Die Triage, die immer angeführt würde – also die Frage, welchen Patienten ein Arzt behandeln oder notfalls sterben lassen solle – wolle kein Mensch. Eine viel sinnvollere Reflexion sein: „Wie viel soll uns das Gesundheitswesen wert sein?“ Man dürfe nicht aus den Augen lassen, dass die Situation in Bergamo sich nicht so gestaltet hätte, „wenn wir die Italiener nicht zehn Jahre zuvor gezwungen hätten, ihre Staatshaushalte so zusammenzusparen“.

Kritik an systemrelevante Gruppen

Als Politikwissenschaftlerin störe sie auch, dass man zwischen systemrelevanten Gruppen und anderen, die vermeintlich nicht systemrelevant seien, in der Gesellschaft unterscheide. „Alle Gruppen der Gesellschaft sind systemrelevant“, stellt Guérot klar.

Wenn wir eine Demokratie wollen, machen wir das mit 100 Prozent der Gesellschaft und nicht mit einigen, die systemrelevant sind und anderen nicht.“

Sich vorzustellen, dass wir eine Demokratie, vor allem eine freiheitliche Demokratie in einem Zustand lange durchhalten, wo alle Gruppen rausfallen, die nicht unmittelbar der sogenannten Systemrelevanz zuarbeiten, „das kann nicht gutgehen“.

Sie sitze für die Gefährdung der Freiheit der Demokratie in dieser Talkrunde. Und jeder Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger müsse angemessen begründet werden. Wenn man das nicht könne, weil die Zahlen es nicht nahelagen, „dann habe ich ein demokratie-theoretisches Problem.“

Das Problem bestehe, weil man heute nicht sagen könne, dass ein erhöhtes COVID-19-Auftreten aus Restaurants, aus der Freizeitgestaltung, aus freiem Sport, beiden Bühnen und bei den Theatern hervorgehe; also aus Bereichen, genauso systemrelevant für eine Gesellschaft sind.

Die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen bestehe darin, dass man jetzt „buchstäblich Leute damit bestraft“, die alles getan haben, damit sie nicht zu Infektionsherden werden.

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[*Anm.d. Red.: Die Aufzeichnung ist vom 29. Oktober. Stand 4. November sind in Deutschland aktuell 2.529 Intensivbetten mit als COVID-19-Fälle eingestuften Patienten belegt. 7.117 Intensivbetten sind deutschlandweit frei. Bei Bedarf kann innerhalb von sieben Tagen im Land eine Notfallreserve von 12.779 Intensivbetten bereitgestellt werden, sodass rein rechnerisch aktuell knapp 20.000 Intensivbetten noch verfügbar sind.]



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