Pfarrer Ziebarth: „Auch wenn ich diesen Staat nicht unterstütze – ich bleibe hier bei den Menschen“

Mindestens 1.600 Seiten umfasst die Stasi-Akte über den Berliner Pfarrer Dieter Ziebarth (82). Im Epoch-Times-Interview berichtet er, warum er trotz Gängelung und Überwachung durch das SED-System in der DDR blieb – und wie sich Stasi-Mitarbeiter selbst „enttarnten“.
Titelbild
Ein Tourist betrachtet alte Fotos vom Mauerbau in der Gedenkstätte der Berliner Mauer in der Bernauer Straße.Foto: Nina Ruecker/Getty Images
Von 17. Juni 2023

Dieter Ziebarth (82) ist Pfarrer im Ruhestand. Er war langjähriger Gemeindepfarrer in der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow. Als Pfarrer in der DDR stand er unter Beobachtung der Stasi, spätestens nach der Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz. Am 15. Januar 1990 folgte er dem Aufruf zur Auflösung der Staatssicherheit und nahm an der Besetzung der Stasi-Hauptzentrale in Berlin teil. Wie blickt er auf die Zeit zurück?

Was für einen Bezug hatten sie als Pfarrer zur Stasi?

Ich bin zwar nicht verhaftet, aber eben lange Zeit observiert worden. So konnte ich herausfinden, was das eigentlich bedeutet, in der Stasi zu sein. Zweitens hatte man Kontakt zu anderen Leuten, die eben wirklich Opfer waren. Ich kannte viele Berichte dazu. Das musste unbedingt ein Ende haben.

Gibt es über Sie selbst auch eine Stasi-Akte und was steht da?

Mehrere Akten! 1.600 Seiten habe ich durchgearbeitet. Was fand ich in den Akten? Das ist ein langes Kapitel. Da sind zum Beispiel bestimmte Ereignisse, die einem fraglich erschienen. Dinge, wo man sagt, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Aber Aufklärung bekam man nicht, man blieb im Zweifel. War es ein Zufall, war es kein Zufall? War es so arrangiert oder nicht?

Durch die Akten konnte ich dann erfahren, was tatsächlich dahintersteckte. Dann gab es diese Momente, wo mich schon damals ein komisches Bauchgefühl ergriff: „Oh, da stimmt was nicht.“ Letztlich hat sich durch das, was ich in den Stasi-Akten fand, bewahrheitet, dass die Stasi dahintersteckte. Wenn man eine Abhöranlage in seinem Gebäude findet, dann war alles klar.

Aber es gab im Bereich der sogenannten Zersetzung – wo versucht wurde, die Beziehung zwischen Menschen zu zerstören – Sachen, die für mich nicht ganz klar waren. Ich wollte schon wissen, was damals wirklich passierte. Da ich mit sehr vielen Menschen zu tun hatte, wollte ich auch wissen, wer Stasi-Mitarbeiter war und wer an die Stasi berichtet hat. Dann wollte ich auch wissen, in welcher Weise die Menschen, die ich gut kannte, berichtet haben. Zudem interessierte mich, wie viele sich nicht von der Stasi anwerben ließen und eine Zusammenarbeit ablehnten.

Fanden sie tatsächlich Hinweise darauf, dass Beziehungen durch die Stasi gesteuert zu Bruch gingen?

Ja, in Ausnahmefällen. Aber oft sind die Dinge sehr ineinander verwoben, weil man die Menschen sehr genau beobachtet hat. Konstellationen, die auch so zerbrochen wären, hat man gezielt benutzt, um dann noch andere Interessen zu bedienen. Das ist dann schwierig auseinanderzuhalten.

Allerdings hat die Stasi auch Dinge komplett arrangiert. Sie hat Legenden erfunden und dann irgendjemanden beauftragt, zu mir als Pfarrer zu kommen. Dieser Mensch erzählte mir, dass er in einem Gefängnis war, nun aber entlassen worden wäre und er jetzt in die Kirche eintreten wolle. Er zeigte mir Entlassungspapiere, die, wie sich später herausstellte, alle gefälscht waren.

Wenn dieser Mensch bei mir war, passierte es öfter, dass mein Telefon läutete, ich nahm ab und dann wurde aufgelegt. Lange Zeit verstand ich nicht, was das zu bedeuten hatte. Durch die Stasi-Akte verstand ich, dass die Anrufe Kontrollmaßnahmen gegenüber ihren eigenen Mitarbeitern waren.

Durch die Stasi-Akte fand ich heraus, dass es tatsächlich ein Häftling, aber kein politischer Häftling war, wie er vorgab. Die Stasi hatte ihm für die Mitarbeit die Halbierung der Haftstrafe versprochen. Und, was in der DDR noch wichtiger war, man hatte ihm eine Wohnung versprochen. Ich kann ihm fast nicht verdenken, dass er da nicht standgehalten hat, sondern entschied: „Das will ich machen“. Er war ja auch nicht ganz unintelligent.

Aber diese Geschichte endete dann abrupt, weil er sich selbst enttarnt hat. Das ist mir ein paar Mal passiert. Mir wurde von den Menschen, die sich von der Stasi anheuern ließen, ein Zettel zugestellt, darin hieß es beispielsweise: „Ich komme nicht mehr.“ Oder es gab eine Nachricht, aus der ich schließen konnte, dass sie mit dem „Organ“, wie man die Stasi auch nannte, zusammengearbeitet haben.

Sie sprachen von einer Abhöranlage. Wie fanden Sie diese?

Ich war zunächst Studentenpfarrer in Leipzig und wir hatten einen Raum, den wir für Besprechungen nutzten. Eines Tages bekam ich einen abgerissenen Zettel in den Briefkasten gesteckt: „Schaut mal da und da!“ Vermutlich war der Hinweisgeber auch die Person, die die Abhörtechnik dort verlegt hatte. Möglicherweise bekam er irgendwann Gewissensbisse und wollte sich entschuldigen.

Wir haben dann fast den ganzen Tag gesucht. Dann fanden wir schließlich die Technik an einem ausgefallenen Ort. Das Abhörgerät brachte ich dann am nächsten Tag persönlich zur Kirchenleitung. Ich dachte, das wäre etwas ganz Besonderes. Dann machten Sie dort einen Schrank auf und da lagen schon mindestens 30 dieser Geräte, die sie woanders eingesammelt hatten. Diese Erfahrungen haben mich geprägt. Für mich war diese bewusste Zerstörung von Menschen und dieses Misstrauen, das dann überall aufgebaut wurde, das Schlimmste an der Sache.

Warum hat man Sie abgehört? Was meinen Sie?

Ich galt als „feindlicher und negativer“ Pfarrerssohn. Daher wollte man natürlich wissen: „Was macht er wirklich?“ Zweitens wollte man Sachen finden, die man mir anhängen und ausnutzen kann. Das heißt, man wollte mich dazu verleiten, eine Straftat zu begehen, um mich dann als „Strafe“ aus dem Verkehr ziehen zu können.

In meinem Fall sollte das der Strafvorwurf „Beihilfe zur Republikflucht“ sein. Sie wollten über mich zudem mögliche Hintermänner finden, die bei Fluchtversuchen aus der DDR halfen. Daher verstand ich auch, warum die von der Stasi angeworbenen Menschen mir gegenüber immer wieder berichteten, dass sie in ihren Betrieben angeblich drangsaliert worden wären und das nicht aufgehört habe. Jemandem zu raten, die DDR zu verlassen und so sein Leben zu gefährden, stand jedoch für mich außer Frage. Das habe ich nicht gemacht.

Gab es Momente, wo Sie über das, was Sie in der Stasi-Akte lasen, erschrocken waren?

Ja, am Anfang schon. Ich habe mir immer Mühe gegeben, mich nicht an dem Stasi-Spiel zu beteiligen „Wer könnte ein Stasi-Spitzel sein?“ Das Ganze sollte Misstrauen erzeugen. Wenn ich mich von dem Misstrauen anstecken lasse, dann betreibe ich das Werk derer, die das verbreiten wollen. Also habe ich es mir zur Regel gemacht, nur das zu sagen, was ich auch öffentlich und mit meinem Gewissen vertreten kann. Ich habe mir auch gedacht, ich kann nicht Vertrauen predigen und Misstrauen leben. Ich bin dann zunächst immer davon ausgegangen, dass der Betroffene kein Stasi-Mitarbeiter ist. Lieber täusche ich mich, als dass ich jemanden ungerechtfertigterweise belaste.

Warum wurden Sie von der Stasi als „feindlich eingestellt“ gesehen?

Aus meiner Sicht war diese Einordnung völlig ungerechtfertigt. Mein erster Eintrag bei der Stasi ist von der Musterung 1962. Damals sagte ich: „Ich werde im Falle der Einberufung nicht Folge leisten.“ Das war, bevor es diese sogenannten Bausoldaten in der DDR gab. Später hat man mich dann zum offiziellen Beobachtungsobjekt auserkoren. Ich hatte als Pfarrer in der Jugendarbeit natürlich oft Jugendlichen geholfen und habe ihnen bei Problemen beigestanden. Vielleicht kreidete man mir an, dass ich Literatur an sie verliehen habe, die sie normalerweise nicht bekommen konnten. Vielleicht hat die Stasi diese Bücher dann bei ihnen gefunden. Vielleicht störte sie auch, dass ich in der diakonischen Jugendarbeit Themen mit den Jugendlichen besprach, die offiziell nicht besprochen werden durften.

Gab es einen Punkt, wo sich Ihr Blick auf die DDR und auf die Sowjetische Besatzungszone verändert hat? Wollten sie nie aus der DDR flüchten?

Obwohl ich lange vor dem Mauerbau begriff, dass hier was schiefläuft, hätte ich das nie gemacht. In der ganzen Schulzeit gab es eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus als Weltanschauung. Ab einem bestimmten Punkt habe ich dann gesagt: „Also hier läuft etwas grundsätzlich schief.“

In der Abiturklasse gab es einen Direktor, der Parteimitglied war und der eine Selbstverpflichtung abgegeben hatte, diesen Schülerjahrgang für die Nationale Volksarmee anzuwerben. Daher gab es drängende Einzelgespräche mit jedem Einzelnen von uns. Damals gab es noch keine Wehrpflicht. Wir sollten uns freiwillig melden und dann gab es zur „Belohnung“ Zusagen zu bestimmten Studienplätzen. Von 20 oder 23 Jugendlichen hatte er zum Schluss acht für den Wehrdienst gewonnen. Sein selbst gestecktes Ziel hatte er nicht erreicht. Das wurde später von der Partei auch gerügt.

Ich sagte ihm damals, dass ich auf freiwilliger Basis keinen Wehrdienst leisten werde und dabei bleibt es. „Na gut, das werden wir bei Ihrer Studienbewerbung berücksichtigen“, hieß es. Dann kam relativ schnell die Studienplatzabsage und die Aussage, ich sei für ein Studium in der DDR in keinerlei Hinsicht zu empfehlen, allerhöchstens eine Berufsausbildung wäre noch möglich. Nach dieser Ansage hätte ich mich für einen Fahrpreis von 20 Pfennig in den Westen absetzen können.

Ich habe es jedoch als Fingerzeig verstanden, in der DDR zu bleiben und ein Theologiestudium anzufangen. Denn das war das Einzige, was ich in der DDR nun noch studieren konnte; was sie auch nicht verhindern konnten, weil es ein kirchliches Studium war. Ich empfand es als Schicksalsfügung. Ich verstand es so, wie es damals in Vorgesprächen zum Theologiestudium gesagt wurde: Dass man von dem Ort, an dem man von Gott gestellt wird, wenn die Sache schwierig wird, nicht einfach wegrennt.

Außerdem haben mich meine Erlebnisse während des Mauerbaus 1961 geprägt. Mein Studentenwohnheim lag 350 Meter von der Mauer entfernt. Im Umfeld dieses Mauerbaus erlebte ich die nächtlichen Schüsse. Jeden Tag wurde es mehr und mehr Stacheldraht, der die Menschen trennte. Später folgte die Betonmauer. Zudem sah ich immer wieder Menschen, wie sie sich über die Mauer versuchten, zuzuwinken und dann eingekesselt und in übelster Weise von den DDR-Grenzern beschimpft wurden – mit Ausdrücken, die mir nur aus dem Dritten Reich geläufig waren. Das bestärkte mich in meiner Entscheidung, diesen Staat nicht zu unterstützen, aber den Menschen in dieser Situation beizustehen, sie nicht allein zu lassen. Ich wollte Menschen beistehen, die Hilfe benötigten und denen es vielleicht noch schlechter ging als mir. So ist es dann auch gekommen. Ich bin bis zum Ende der DDR geblieben.

Zur Person: Dieter Ziebarth (82) ist Pfarrer im Ruhestand – und leistet weiter aktiv Hilfe. Seine erste Pfarrstelle hatte er von 1970 bis 1978 in St. Michaelis in Zeitz. In diese Zeit fällt die Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz, einem Nachbarn von Ziebarth. Spätestens ab da stand er unter Beobachtung der Stasi, wobei man Ziebarth offenbar Mitwisserschaft anhängen wollte. 1979 wurde er Studentenpfarrer in Leipzig. Ab 1984 leitete er in Berlin die Evangelischen Studentengemeinden der DDR, baute Netzwerke und fungierte als Vermittler zwischen Staat und Kirche. 1989 ging er in den Pfarrdienst in Treptow in der Bekenntniskirche. Dort unterstützte er Ausreisewillige, Menschenrechtler und Homosexuelle. Nach der Wiedervereinigung kümmerte er sich dort um Obdachlose und unbegleitete Minderjährige. 



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