„Danke, Herr Liefers“: Tübingen-OB Palmer gegen „eingeübte Rituale“ der Empörung

In den Medien wird derzeit immer mehr der Eindruck erweckt, dass die Video-Aktion #allesdichtmachen von 53 deutschen Schauspielern von allen Seiten nur kritisiert werde. Tübingens OB Boris Palmer (Grüne) dazu: „Es gibt ganz viele Menschen, die erleichtert sind, die ausgeatmet haben, weil es diese Aktion gab.“ Und Palmer sagte noch mehr, bei „Maybrit Illner“, als sich dort Jan-Josef Liefers rechtfertigen musste.
Von 30. April 2021

Jan-Josef Liefers erklärte in der „ZDF“-Talksendung „Maybrit Illner“ am 29. April seine Sicht auf die Vorgeschichte der Videoserie der 53 Schauspieler des Projekts #allesdichtmachen: „Ich habe es jetzt so versucht, ich habe es auch so versucht, andere haben es so versucht. Es sind Leute auf die Straße gegangen …“. Nichts war passiert. Irgendwann sage man dann: „Los komm, jetzt lassen wir mal einen raus“.

Schon nach kurzer Zeit nahmen einige Künstler nach einem Sturm der Entrüstung und Morddrohungen ihre Videos wieder aus dem Netz. Auch Liefers sah sich vielen Anfeindungen ausgesetzt und in öffentlicher Erklärungsnot.

Boris Palmer: „Danke, Herr Liefers“

Auch der später zugeschaltete Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (ab 0:38), bekannt für sein Tübinger Modell von testen und öffnen, zeigte sich kritisch gegenüber den aufgekommenen Reaktionen.

Er kenne die Erfahrungen, die Jan-Josef Liefers nun mache, schon seit vielen Jahren und kenne diese Mechanismen: „Was wir hier erleben, sind eingeübte Rituale: die Empörung, die Cancel Culture.“ Es sei die klassische Reaktion, dass so viele ihre Videos dementiert und wieder gelöscht hätten. Man werde so unter Druck gesetzt, bis man nicht mehr zu dem stehe, was man gesagt habe.

„Dabei wird immer die Urteilskraft der Menschen unterschätzt“, so Palmer. „Die Leute sind gar nicht blöd. Das sind mündige Bürger. Die können das beurteilen. Die stimmen Liefers zu oder auch nicht.“ Sie bräuchten keine Vordenker, die ihnen klarmachen, „was die gute Seite der Macht ist“. Es sei auch nicht so, dass die Lockdown-Maßnahmen die einzige Möglichkeit seien, eine Pandemie zu bekämpfen.

Wer eine solche Maßnahme kritisiere, sei deshalb niemand, der billigen würde, dass Menschen auf die Intensivstation kämen. Es gebe ganz viele Menschen, die erleichtert seien und ausgeatmet hätten, weil es diese Aktion gab. Palmer finde es großartig, was sich diese Künstler getraut hätten und dass man jetzt anders diskutiere als noch vor einer Woche: „Danke, Herr Liefers, für diese Aktion.“

Dabei sieht Palmer durchaus auch sich selbst oder auch Jan-Josef Liefers als „Sender“ als Teil des Problems. Es gebe aber auch zwei Teile des Problem, die nicht an ihnen liegen würden. Zum einen nennt Palmer dabei die von Sarah Wagenknecht kritisierten „selbstgerechten Lifestyle-Linken“. „Das sind Menschen, die nicht mehr argumentieren, sondern ausgrenzen wollen“, so Palmer. Davon gebe es immer mehr.

Das andere seien die „Mechanismen der asozialen Medien, wo immer die lauteste Stimme die meiste Aufmerksamkeit und Klicks bekommt.“ Das mache unsere demokratische Kultur immer schlechter. „Wir sollten uns mit gesunder Urteilskraft dagegen auflehnen und miteinander streiten“, so Palmer, der damit an sein zuvor genanntes Argument anknüpft, dass die Video-Aktion nicht spaltend gewesen sei. Man müsse miteinander streiten, um im Gespräch und zusammenzubleiben.

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Der bei „Maybrit Illner“ ebenfalls zugeschaltete FDP- und Bundestagsvize Wolfgang Kubicki warnte in der Sendung ebenfalls wie Palmer davor, Kritiker der Corona-Maßnahmen zu Menschen zu erklären, die schwere Krankheitsverläufe oder Todesfälle wollen. Er plädierte zudem für die im Grundgesetz verankerte Kunst- und Meinungsfreiheit. Es gelte, die Videos und Meinungen der Künstler auszuhalten, so Kubicki.

Gottschalk verteidigt Künstler und Urteilsfähigkeit

Einen Tag zuvor, am 28. April, hatte sich bereits Entertainer Thomas Gottschalk bei „Maischberger“ in der „ARD“ für die Künstler eingesetzt, die er alle als „ernsthafte Menschen“ bezeichnete. „Da gehört Jan Josef dazu. Dieser Mann wollte das Beste. Der wollte einen Beitrag leisten, dass die Dinge besser werden“, erklärte der Showmaster, wie unter anderem „VIP“ berichtet.

Der Entertainer beklagte zudem die öffentliche Diskussionskultur in Deutschland: „Es ist in diesem Lande jede Diskursfähigkeit verloren gegangen. Das ist eine gewisse Tragik.“ Und während Boris Palmer von unnötigen Vordenkern und mündigen Bürgern sprach, die selbst beurteilen können, erklärte es Gottschalk mit einem Rückblick in seine Vergangenheit: „Ich habe auch in jungen Jahren stets gewusst, ob ich das Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ oder die Satirezeitschrift ‚Titanic‘ lese.“

Video-Aktion als Initialzündung

Die Videos hatten ein Inferno ausgelöst: geforderte Berufsverbote, Beschimpfungen und Hass, bis hin zu Morddrohungen. „Meine Schwester sitzt zu Hause und weint. Sie bekommt sogar Morddrohungen“, erklärte Schauspieler Ben Becker gegenüber der „Bild“ nachdem seine Schwester Meret mit einem Video an der Aktion teilgenommen hatte.

„Was ist nur aus unserem Land geworden, dass man nicht mehr kritisch hinterfragen darf? (…) Ich sitze hier am Set in meinem Wohnwagen, und draußen stehen Leute und rufen, wo der Becker ist. Das macht Angst. Wer weiß, was noch alles passieren wird“, so der Schauspieler.

Im „Stern“ merkte der Schauspieler Hans-Jochen Wagner (u.a. „Tatort“), der die Video-Aktion missglückt fand, an: „Durch den kurzen Aufmerksamkeits-Flash wird das jetzt hochgekocht, aber auch schnell wieder vergessen.“ Auch für ihn sei es dann wieder vergessen, so Wagners Aussage. „Wir können uns nur dann wieder in die Augen gucken, wenn jetzt keine öffentlichen Hinrichtungen stattfinden. Wenn nicht die moralischen Eiferer aus der anderen Ecke sagen: Die müssen gekreuzigt werden und dürfen nie wieder arbeiten.“



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