Ostdeutsche in Top-Positionen stark unterrepräsentiert
Die Ostdeutschen sind in Führungspositionen bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil noch immer stark unterrepräsentiert, sowohl in gesamtdeutschen Führungspositionen als auch in Ostdeutschland selbst.
Ein erwartetes Nachrücken Ostdeutscher in Elitepositionen fand in einem Großteil der untersuchten gesellschaftlichen Bereiche nicht statt. Zu diesem Ergebnis kam eine aktuelle Datenerhebung von MDR und der Universität Leipzig.
„Das muss sich, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, ändern“, kommentiert Carsten Schneider, Staatsminister und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. Ostdeutsche Sichtweisen und Erfahrungen in Entscheidungsprozessen würden zu wenig berücksichtigt, das große Potenzial der Ostdeutschen zu wenig genutzt.
„Die Ampel-Koalition hat vereinbart, die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien in allen Bereichen zu verbessern und für die Ebene des Bundes bis Ende 2022 ein Konzept vorzulegen.“
Rückgänge in Politik, Wirtschaft und Medien
Während in den Bereichen Justiz und Wissenschaft – in denen die fachliche Qualifikation ein wesentliches Auswahlkriterium ist – ein Nachrücken Ostdeutscher in Elitepositionen festzustellen ist, sind in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Medien teilweise Rückgänge zu verzeichnen:
Politik: In den Landesregierungen lagen die Anteile Ostdeutscher in den Jahren 1991, 2004 und 2016 bei mindestens 70 Prozent, aktuell liegen sie bei nur noch 60 Prozent. Unter den Staatssekretären ist der Anteil seit 2016 stetig gestiegen auf nunmehr 52 Prozent.
In der Bundesregierung gibt es aktuell zwei Ostdeutsche, was einer Quote unterhalb des Bevölkerungsanteils entspricht. 2016 waren es noch drei. Unter den Staatssekretären stieg der Anteil nach 2016 von 5 Prozent auf 5,6 Prozent.
Wirtschaft: In der Leitung der 100 größten ostdeutschen Unternehmen ist der Anteil Ostdeutscher von 52 Prozent (2004) und 45 Prozent (2016) auf 27 Prozent gesunken. Auf der Stellvertreterposition liegt er bei 20 Prozent. In den DAX-Vorständen wurden zwei Ostdeutsche ermittelt. 2016 waren es noch drei.
Wissenschaft: 17 Prozent der Hochschulrektoren bzw. -präsidenten der größten ostdeutschen Hochschulen haben eine ostdeutsche Herkunft. Unter den Kanzlern sind es 50 Prozent. Die Werte sind im Zeitvergleich stabil. An der Spitze ostdeutscher Forschungsinstitute stieg der Anteil Ostdeutscher von 15 auf 20 Prozent. An der Spitze der nach Studentenzahlen 100 größten Hochschulen steht nur an einer Einrichtung ein Ostdeutscher, 2016 war es keiner.
Justiz: In der gesamten Richterschaft oberster ostdeutscher Gerichte stieg der Anteil Ostdeutscher stetig auf mittlerweile 22 Prozent nach 13 Prozent im Jahr 2016. Unter den ermittelten Vorsitzenden Richtern ging er von knapp 6 auf 4,5 Prozent zurück. In der Richterschaft der Bundesgerichte stieg der Ost-Anteil von 2 Prozent (2016) auf gut 5 Prozent. 2021 erreichte erstmals eine Ostdeutsche die Position einer Vorsitzenden Richterin.
Medien: In den Chefredaktionen der großen Regionalzeitungen ging der Anteil Ostdeutscher von 62 Prozent (2016) auf 43 Prozent zurück. In der jeweiligen Verlagsleitung stieg er von 9 auf 20 Prozent. In den Führungsgremien der drei öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die ihr Sendegebiet ganz oder teilweise in Ostdeutschland haben, stieg der Anteil Ostdeutscher stetig an, auf mittlerweile 31 Prozent.
Während in der Leitung der größten deutschen Medienkonzerne keine Ostdeutschen sitzen, sind es in den Chefredaktionen der auflagenstärksten Printmedien zwei. An der Spitze der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland findet sich eine Ostdeutsche.
Karrierestationen der Ostdeutschen liegen oft im Westen
Als Ostdeutscher gilt, wer in der DDR oder nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland sozialisiert wurde. Dementsprechend werden hier Personen zu Ostdeutschen gezählt, die vor 1990 in der DDR geboren oder aufgewachsen sind oder, wenn nicht in der DDR geboren, dort bis 1990 den größeren Teil ihres Lebens verbracht haben. Auch jüngere Menschen, die nach 1989 bis zum Erreichen des Erwachsenenalters den überwiegenden Teil ihres Lebens in Ostdeutschland verbracht haben, zählt man bei dieser Datenerhebung zu den Menschen mit ostdeutscher Herkunft.
Doch was sind die Hintergründe für die Entwicklung? Im Rahmen der Datenerhebung zu den Biografien der ostdeutschen Top-Eliteangehörigen auf Bundesebene wurden Studienorte und Karrierestationen ermittelt. „Deren regionale Verteilung weist darauf hin, dass der Aufstieg in Deutschland vor allem über die frühere Bundesrepublik verläuft oder – besonders in der Politik – über die Bundeshauptstadt Berlin“, berichten die Autoren.
Die Studienorte der Ostdeutschen in Top-Elitepositionen lägen nur gut zur Hälfte in Ostdeutschland, heißt es weiter. „Die weiteren Karrierestationen von diesen Ostdeutschen liegen sogar nur zu 43 Prozent in Ostdeutschland. Von den aus Westdeutschland stammenden Eliten haben lediglich zwei Prozent in Ostdeutschland studiert und nur etwa zehn Prozent der Karrierestationen von Westdeutschen liegen in den fünf ostdeutschen Bundesländern.“
Das könnte darauf hindeuten, dass es über einen Abschluss an Studienorten in den alten Bundesländern und Karrierestationen dort, leichter ist, in Führungspositionen zu gelangen.
Hintergründe für Entwicklung noch nicht genau geklärt
Warum so wenig Ostdeutsche den Weg in die Eliten fanden, ist noch nicht ausreichend mit empirischen Studien beantwortet worden. Allerdings gibt es verschiedene Erklärungsansätze.
„Zu den sozialstrukturellen Erklärungsansätzen gehört im Besonderen die Wanderung zwischen West- und Ostdeutschland“, heißt es in der Datenerhebung. „Denn auf dem Gebiet der früheren DDR war ab 1990 ein beispielloser Elitentransfer notwendig, zunächst weil die früheren DDR-Eliten ihre Legitimation eingebüßt hatten.“ Ferner habe die Übertragung des westdeutschen Rechts- und Institutionensystems erfahrene Bürokraten erforderlich gemacht, die notwendigerweise aus dem Westen kommen mussten, so die Autoren.
Dann führen sie weiter aus: „Da viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise jung waren, konnten sie Elitepositionen unter Umständen für Jahrzehnte besetzen und damit ein Nachrücken Ostdeutscher erschweren.“
Parallel zu dieser Zuwanderung aus dem Westen habe Ostdeutschland eine dramatische Abwanderung, besonders stark in den Jahren nach der Wiedervereinigung und um die Jahrtausendwende erlebt, heißt es weiter. „Unter den gut dreieinhalb Millionen Menschen, die aus Ostdeutschland in den Westen übersiedelten, waren vor allem 18- bis 30-Jährige.“
Mit diesen jungen, gut ausgebildeten Menschen sei Ostdeutschland in den letzten Jahrzehnten ein Potenzial an Führungskräften verloren gegangen, welche durch ihr relativ höheres Bildungsniveau für Elitepositionen infrage gekommen wären, heißt es in der Datenerhebung.
Die Daten wurden als Zeitreihenuntersuchung seit 2004 von der Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft mbH in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und dem Mitteldeutschen Rundfunk erhoben. Referenz ist der Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen, schätzungsweise 80 Prozent auf dem Gebiet der fünf ostdeutschen Bundesländer und ca. 17 Prozent in der gesamten Bundesrepublik.
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