Ökonom: Weidels „Dexit“-Idee bedeutet „bis zu 500 Milliarden Euro Verlust“
In einem Interview mit der „Financial Times“ (FT) hatte AfD-Bundessprecherin Alice Weidel nicht nur den Brexit als „vollkommen richtig“ für Großbritannien gewürdigt. Sie hat auch angeregt, unter bestimmten Umständen ein ähnliches Referendum über einen Austritt aus der EU in Deutschland abzuhalten. Dies wäre vor allem eine Option, sollte eine Reform der Staatengemeinschaft hin zu mehr Souveränität der Mitgliedstaaten scheitern.
Nur wenige wollen Dexit – EU-Skepsis steigt jedoch deutlich an
Weidel sprach von einem „Modell für Deutschland, dass man so eine souveräne Entscheidung treffen kann“. Derzeit würde ein möglicher Dexit gleich zwei Änderungen des Grundgesetzes erfordern. Zum einen müsse die Möglichkeit von Volksentscheiden auf Bundesebene grundsätzlich erweitert werden. Ferner müsste der Artikel 23 verändert werden, der ausdrücklich die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union festschreibt.
Die Erfolgschancen eines solchen Unterfangens wären derzeit überschaubar. Eine von der FT zitierte Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung ergab eine Mehrheit von 90 Prozent für einen Verbleib Deutschlands in der EU. Unter AfD-Wählern wären jedoch immerhin 45 Prozent für einen Austritt.
Allerdings ist die EU-Skepsis beispielsweise in Bayern zuletzt deutlich angewachsen, wie der „BR-Bayerntrend“ ausweist. Zwar halten 70 Prozent der Bewohner des Freistaats die Zugehörigkeit zur EU immer noch für eine gute Idee. Allerdings ist der Anteil der Befürworter einer „vertieften Zusammenarbeit“ seit Mai 2019 um 24 Punkte von 57 auf 33 Prozent gesunken. 39 Prozent der Befragten wollen Zuständigkeiten wieder von der EU weg verlagern.
IW weist auf mögliche Nebeneffekte hin
Deutliche Kritik am Vorhaben Weidels übte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln, Michael Hüther. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ bezifferte er die möglichen Wohlstandsverluste aufgrund eines Dexit auf 400 bis 500 Milliarden Euro.
Dies wäre die Konsequenz aus entgangenen Gewinnen, vor allem aufseiten der Exportwirtschaft. Pro Jahr würde die deutsche Wirtschaft „um geschätzte sechs Prozent weniger“ wachsen. Schon fünf Prozent weniger Wachstum würde einem Wegfall von etwa 2,2 Millionen Arbeitsplätzen gleichkommen.
In zehn bis 15 Jahren wäre die Wirtschaft insgesamt um rund zehn Prozent geschrumpft. Deutschlands exportorientierte Nationalökonomie habe in besonderer Weise vom Binnenmarkt profitiert. Außerdem sei durch den Euro das Wechselkursrisiko weggefallen.
Obwohl die USA der wichtigste Exportpartner für Deutschland sind, sind 13 der 20 wichtigsten Handelspartner Mitgliedstaaten der EU. Sollten sich die Handelsbeziehungen dorthin verschlechtern, was nach einem Dexit zu erwarten wäre, würde zudem die Abhängigkeit von China noch weiter steigen.
EU als einer der letzten konkurrenzfähigen Märkte für Hochpreisland Deutschland
Hinzu kommt, dass die deutsche Exportwirtschaft sich generell derzeit in keinem guten Zustand befindet. Inflation und hohe Energiekosten machen die Güter noch teurer, was den Absatz im Ausland schwächt.
Es wäre zwar möglicherweise davon auszugehen, dass eine von der AfD mitgestaltete Regierung durch wesentliche Veränderungen in der Klima- und Energiepolitik die Preise in der Produktion senken würde. Dennoch hätte man einen erheblichen Anteil an Drittstaatenmärkten bereits an andere Anbieter verloren.
Der ungehinderte Marktzugang innerhalb der EU erleichtert es der deutschen Exportwirtschaft in einer solchen Situation, zumindest in deren Mitgliedstaaten den Absatz zu stabilisieren. Dies gilt selbst unter der Prämisse, dass die EU selbst mit ihrer Politik an Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten einbüßt.
Die Tendenzen zur Abschottung und zum Protektionismus, die in der EU unter dem Banner von „Klimazöllen“ oder Lieferkettenkontrollen Platz greifen, würden nach einem Dexit auch Deutschland treffen. Dies erst recht, wenn dieser genutzt werden sollte, um die Belastungen abzuschütteln, die zuvor auf nationaler Ebene in diesem Kontext geschaffen worden waren.
Spitzenkandidat Krah bereits 2019 gegen Dexit im Alleingang
In der AfD hatte es bereits 2019 geheißen, man wolle sich die Option eines Dexits vorbehalten, sollte es zu keiner grundsätzlichen Veränderung der politischen Struktur und Ausrichtung der EU kommen. Eine solche ist nicht zu verzeichnen – die EU beanspruchte im Zeichen von Klimapolitik, Corona und dem Ukrainekrieg sogar noch weitreichendere Machtbefugnisse.
Dennoch bleibt die von Weidel ins Treffen geführte Dexit-Option nicht für alle Teile der AfD ein zeitnah relevantes Thema. Der Spitzenkandidat zur EU-Wahl, Maximilian Krah, äußerte sich wie schon vor fünf Jahren zurückhaltend. Gegenüber der „Berliner Morgenpost“ sagte er:
„Soweit mit dem Dexit gemeint ist, Deutschland geht heraus und alle anderen bleiben drin, dann wollen wir das nicht.“
Zwar ist im EU-Wahlprogramm der Partei die Rede von der EU als „gescheitertem Projekt“. Von einem „Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union“ wird jedoch nur im nationalen Grundsatzprogramm gesprochen. Konsens besteht über die Umgestaltung der Staatengemeinschaft mit dem Ziel der „Neugründung einer europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“. Immerhin scheint sich auch in anderen EU-Staaten eine Tendenz weg von noch mehr Macht für Brüssel und weg von inflationstreibender Politik abzuzeichnen.
Deutschland nicht gleiche Position wie Großbritannien
Krah begründete seine reservierte Position schon im Vorfeld der EU-Wahl vor fünf Jahren damit, dass sich die Erfahrungen Großbritanniens aus dem Brexit nicht 1:1 auf Deutschland übertragen ließen.
Anders als Großbritannien befinde sich Deutschland nicht in einer geografischen Rand- oder Insellage, die vor allem den Seehandel zu einer Option mache. Neben der politischen Souveränität hatte der Brexit Großbritannien die Chance eröffnet, Freihandelsabkommen abzuschließen, an denen die EU zuvor gescheitert war.
Deutschland stünde jedoch im Fall eines isolierten Dexits nicht nur vor der Herausforderung, seine Wirtschaftsbeziehungen zur EU bilateral zu ordnen. Anders als Großbritannien gibt es auch keine breite gesellschaftliche Rückendeckung für großangelegte Handelsvereinbarungen. Dies zeigte sich unter anderem am gescheiterten TTIP-Abkommen der 2010er-Jahre. Hier war Deutschland unter den führenden Bedenkenträgern auf europäischer Ebene.
Sowohl bei TTIP als auch beim später zustande gekommenen CETA-Abkommen mit Kanada befand sich unter den Gegnern der Vereinbarungen ebenso die AfD.
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