Oberster Verfassungsrichter a. D. Papier: Grundrechte müssen auch in Zeiten von Notlagen gelten
Prof. Hans-Jürgen Papier (CSU), der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), hat die deutsche Rechtsprechung für ihr Verhalten während der Corona-Krise kritisiert.
„Gesetzgebung und Verwaltung, aber mit Einschränkung auch die Judikatur, insbesondere die des Bundesverfassungsgerichts, haben im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung die Anforderungen des Rechtsstaats nicht immer hinreichend beachtet und durchgesetzt“, erklärte der Staatsrechtler in einem Gastbeitrag für das Magazin „Cicero“.
Zu viele Versäumnisse im „Fürsorgestaat“
Die „Anforderungen des Rechtsstaats“ bestehen nach Auffassung von Papier in einer Reihe von Grundsätzen beziehungsweise Pflichten, an die sich eben auch die Judikative – also die rechtsprechende Gewalt – zu halten hat. Das BVerfG aber habe es als höchste deutsche Justiz-Instanz versäumt, eigenhändig „verfassungsrechtliche Maßstäbe“ zu entwickeln, „welche die höchst unterschiedlichen Schweregrade der diversen Grundrechtsbeschränkungen angemessen“ berücksichtigt hätten, so Papier im „Cicero“ (Bezahlschranke).
Das Bundesverfassungsgericht habe zudem die „Freiheitlichkeit unserer rechtsstaatlichen Ordnung“ aufs Spiel gesetzt, indem es dem Staat „ein undifferenziertes, allgemeines und letztlich unbegrenztes verfassungsrechtliches Plazet für Freiheitsbeschränkungen und Grundrechtssuspendierungen jeder Art und jeden Ausmaßes“ erteilt habe. So etwas aber berge Gefahren:
Ein Staat, der alle persönlichen Risiken seinen Bürgerinnen und Bürgern abzunehmen versucht, wird selbst zum Risiko für die Freiheitlichkeit der Gesellschaft.“
Ganz gleich, wie berechtigt die Rufe der Bürger etwa nach effektiven Schutzmaßnahmen oder nach einer besseren Klimapolitik auch sein mögen: Niemals dürften dafür die Freiheitsrechte wegfallen, gab Papier zu bedenken – schon gar nicht „zugunsten eines auf Obrigkeit, Reglementierung, Überwachung und eines, die freien Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mehr oder weniger als Untertanen behandelnden Fürsorgestaats“.
Karlsruhe auf Regierungslinie
Der Juraprofessor spielte damit wohl auf eine Reihe von Beschlüssen an, die der Erste Senat des BVerfG unter dem Vorsitz von Stephan Harbarth (CDU) seit November 2021 getroffen hatte. Damals ging es hauptsächlich um jene Be- und Einschränkungen, die den Menschen in Deutschland aufgrund der sogenannten „Bundesnotbremse“ zwischen Ende April und Ende Juni 2021 auferlegt worden waren.
In jedem Streitfall hatte das höchste deutsche Gericht entschieden, dass die Gesetze, Maßnahmen und Verordnungen, mit denen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen sowie Einschränkungen für die Gastronomie – insbesondere das Hotelgewerbe – geregelt worden waren, mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen seien.
Argumentationslinien, nach denen die Not kein Gebot kenne, der (gute) Zweck jedes Mittel heilige und es bei einer „Pandemiebekämpfung […] keine roten Linien“ geben dürfe, wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch im Dezember 2021 proklamiert hatte, sollte nach Meinung des Staatsrechtlers Papier im „freiheitlichen Verfassungsstaat […] selbst in Not- oder Krisenzeiten eindeutig zurückgewiesen werden“. Denn:
Es steht völlig außer Zweifel, dass die Grundrechte des Grundgesetzes auch in Zeiten von Notlagen gelten müssen. Unsere verfassungsmäßige Ordnung kennt keine Notstandsverfassung, die eine völlige oder auch nur partielle Suspendierung der Grundrechte gestattet.“
Einschränkungen müssen verhältnismäßig sein
Papier verweist in seinem Gastbeitrag ausdrücklich immer wieder auf das „Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit“ als Maßstab jedwedes juristischen Handelns. Dieses Prinzip sei „auch in Krisenzeiten“ unbedingt zu wahren.
Es genüge keinesfalls, sich einfach „ganz abstrakt“ auf den Gesundheitsschutz zu berufen, um staatliche Schutzmaßnahmen „ganz pauschal zu legitimieren“. Vielmehr müsse ein Gericht „schon präziser“ darauf blicken, ob und inwiefern überhaupt „eine Gefahr für das Gesundheitssystem“ drohe.
„Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitserwägungen“, so Papier, hätte es auch einer frühzeitigen Ansage an die „zuständigen staatlichen Stellen“ bedurft, bestimmte Daten zu ermitteln und Sachverhalte aufzuklären. Diese hätte man für „eine rechtzeitige und aussagekräftige Evaluation“ der Gesamtlage gebraucht.
Papier fordert „rechtswissenschaftliche“ Aufarbeitung
Doch die „verantwortlichen staatlichen Stellen“ hätten eben genau das unterlassen, obwohl schon die Rechtsprechung im Allgemeinen und das Verfassungsgericht im Besonderen „auf eine rechtzeitige Evaluierung der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der schwerwiegenden Grundrechtseinschränkungen und damit auf die Schaffung einer relativ gesicherten Datenbasis“ hätten drängen sollen. Da dies nicht geschehen sei, sei „die Erkenntnislage selbst am Ende der Pandemiezeit in weiten Bereichen nicht viel besser […] als in der Anfangszeit der epidemischen Lage“. So etwas dürfe sich nicht wiederholen:
Alle diese Fragen bedürfen unbedingt der rechtswissenschaftlichen Aufarbeitung, damit in künftigen ähnlichen Krisenzeiten der Rechtsstaat auch unter juristischen Aspekten besser gewappnet ist.“
Dass Daten und Fakten von Anfang an nicht in ausreichendem Maße erhoben worden waren, hatten bereits auch etliche andere Wissenschaftler und Regierungskritiker beklagt – etwa der Virologe Prof. Hendrik Streeck, der Risiko-Experte Prof. Werner Bergholz, der Datenanalyst und Buchautor Tom Lausen („Die Intensiv-Mafia“) oder der Rechtsanwalt Sebastian Lucenti. Selbst das Bundesverwaltungsgericht Leipzig hatte schon Mitte 2022 die Datenlage zu COVID-19-Impfnebenwirkungen kritisiert.
Maßnahmen müssen geeignet sein
Auch eine positive Antwort auf die Frage, ob es sich bei den verschiedenen Grundrechtsbeschränkungen der Corona-Zeit um „geeignete Mittel“ gehandelt habe, mit denen man „das legitime Schutzziel“ hätte erreichen können, ist für Papier ein Muss, um überhaupt zu diesen Mitteln greifen zu dürfen.
Stets müssten zumindest zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens dürfe es kein alternatives Mittel geben, das die Freiheitsrechte weniger beschränke, und zweitens dürfe der Schaden eines Mittels seinen Nutzen nicht überwiegen. Dessen ungeachtet gelte die Regel, dass „das Anforderungsprofil an die Rechtfertigung des Eingriffs mit zunehmender Dauer der gravierenden Freiheitsbeschränkungen wachsen“ müsse.
Bis heute keine „evidenzbasierte“ Auswertung
In Deutschland habe es aber bis heute „keine ‚evidenzbasierte‘ Auswertung der Schutzmaßnahmen, ihrer Eignung und Angemessenheit“ gegeben, so Papier. Folgerichtig habe „bis zum Schluss eine zuverlässige und präzise Beurteilung“ darüber gefehlt, „welche Maßnahmen wie wirksam“ und „welche Einschränkungen wirklich notwendig und angemessen gewesen“ seien.
Wenn man aber schon über „schwerwiegende Grundrechtseingriffe“ spreche, wie es sie in den Jahren seit 2020 gegeben hatte, dann dürften solche „Unklarheiten […] grundsätzlich nicht dauerhaft zulasten der Grundrechtsträger gehen“, stellte Papier klar.
Zur Person: Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier
Der gebürtige Berliner Hans-Jürgen Papier (CSU), Jahrgang 1943, wurde im April 2002 zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe ernannt. Er leitete das oberste deutsche Gericht bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 2010. Seitdem meldet er sich immer wieder kritisch zu Wort, wenn es um heikle politische Themen wie Enteignungen, illegale Einwanderung oder Impfpflichten geht. 2021 erschien im Heyne Verlag Papiers Buch „Freiheit in Gefahr: Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können“. Sein Gastbeitrag im „Cicero“ markiert den Auftakt einer Serie namens „Die Causa Corona“.
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