„Nur die Spitze des Eisbergs“: Berliner Verfassungsgericht für Neuwahlen

Einem Paukenschlag gleich kam gestern die Bekanntgabe, dass das Berliner Verfassungsgericht nach vorläufigem Beratungsergebnis eine gesamte Wahlwiederholung zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen vorsieht. Die Senatsverwaltung zeigte sich überrascht von der Dimension der vorläufigen Entscheidung.
Von 29. September 2022

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin erklärte am Mittwoch in einer ersten vorläufigen Einschätzung, dass er die Wahlen 2021 zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin für nicht gültig hält. Damit stünde eine Wahlwiederholung für diese beiden Gremien in ganz Berlin an.

Dabei stützt sich das Verfassungsgericht in seinem bisher größten Fall vor allem auf drei Punkte.

Erstens, es seien zu viele und zum Teil auch schwerwiegende Wahlfehler unterlaufen. Diese seien nicht nur bei der Durchführung der Wahl, sondern schon bei der Vorbereitung geschehen, so die Gerichtssprecherin Lisa Jani.

Zweitens, diese Wahlfehler hätten auch einen Einfluss auf die Stimmverteilung gehabt. „Davon ist der Verfassungsgerichtshof nach derzeitigem Stand überzeugt“, so Jani weiter.

Und drittens wären die Richter der Auffassung, dass das Korrekturinteresse dem Bestandsinteresse überwiegt, dass also in ganz Berlin neu gewählt werden müsse.

Das Gericht sieht die nachweislich stattgefunden Wahlfehler zudem nur als „Spitze vom Eisberg“ und erklärte, dass nicht alles dokumentiert sei, was an Wahlvorkommnissen geschah.

Am 26. September 2021 wurde nicht nur der neue Bundestag und das Berliner Abgeordnetenhaus, sondern auch die Berliner Bezirksverordnetenversammlungen gewählt. Hinzu kam die Abstimmung über einen Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen. Parallel dazu fand der Berliner Marathon mit vielen Straßensperrungen statt.

In mehreren Berliner Bezirken war es aufgrund von fehlenden oder falschen Stimmzetteln und zu wenig aufgestellten Wahlkabinen zu einer zeitweisen Schließung von Wahlräumen sowie zu Warteschlangen vor Wahlräumen gekommen.

Innensenat und Ex-Landeswahlleiterin sehen keine Mandatsrelevanz

Die ehemalige stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann erklärte vor Gericht, dass sie keine Mandatsrelevanz hinsichtlich der Zweitstimmen und „kein flächendeckendes Versagen“ sehe. In ihren Augen hätten fast alle Wähler ordnungsgemäß wählen können. Rockmann hatte nur gegen das Erststimmenergebnis in zwei Wahlkreisen ihren Einwand eingelegt.

Torsten Akmann, Staatssekretär bei der Berliner Innensenatorin, äußerte sich ähnlich. Er erklärte zu den Wahlfehlern einerseits: „Das darf sich nicht wiederholen.“ Andererseits gab er zu bedenken, dass „nur“ 230 von 2.256 Wahllokalen von Wahlunregelmäßigkeiten betroffen gewesen seien. Die hohe Wahlbeteiligung bewirke, dass die Demokratie beeinträchtigt würde, wenn das Wahlergebnis für ungültig erklärt werde, so der Staatssekretär. Das Berliner Innenministerium trägt die Aufsichtspflicht über die Wahlen im Land Berlin.

„Wir sind, offen gesagt, von dem, was das Gericht sagt, überrascht gerade, was die Dimension angeht“, so Akmann weiter. Man hätte unterschiedliche Auffassungen im Bereich der Wahlfehler.

Man habe festgestellt, dass es in neun von zehn Wahllokalen eigentlich keine Vorkommnisse gab, die eine Mandatsrelevanz hätten. Auch hätten einige Bezirkswahlleiter erklärt, dass die Organisation vor Ort eigentlich so wie immer war, natürlich an die Pandemiesituation angepasst.

In Bezug auf die vom Gericht beanstandeten langen Warteschlangen noch bis weit nach der offiziellen Schließzeit der Wahllokale um 18 Uhr erklärte Akmann: „Hier war es ganz wichtig, dass die Menschen auch Abstand haben und dadurch ist es natürlich auch zu den entsprechenden Wartezeiten gekommen.“

Das Gericht sprach von dokumentierten über 350 Stunden, die insgesamt – die einzelnen Wahllokale zusammengerechnet – die Lokale länger geöffnet waren. Dies bedeutete, dass selbst nachdem die ersten Wahlprognosen veröffentlicht wurden, üblicherweise nach 18 Uhr, noch gewählt wurde.

In den Augen der im Abgeordnetenhaus mit 13 Mandaten vertretenen AfD, als eine der Einspruchsführer, sei so eine taktische Wahl möglich gewesen, die das Wahlergebnis möglicherweise verzerrte. Das letzte Wahllokal schloss laut Gericht um 20:58 Uhr. Auch das Gericht sah aus diesem Grund die weit nach 18 Uhr abgegebenen Stimmen als fehlerhaft an.

Zudem erklärte das Gericht, dass in der Summe die Wahllokale unzulässig 83 Stunden vorübergehend geschlossen waren. Für die Bewertung der Wahlvorkommnisse hatte das Gericht die Wahlunterlagen aus allen 2.256 Wahllokalen ausgewertet.

Senat verspricht bei Wahlwiederholung guten Ablauf

Akmann versprach, wenn es aufgrund des abschließenden Urteils des Berliner Landesverfassungsgerichts zu einer Wahlwiederholung kommt: „Dann wird das auch gut laufen in Berlin.“ Die Vorbereitung der Wahlwiederholung habe man schon länger im Blick.

Die vom Gericht vorgetragenen Wahlvorkommnisse reichen von der fehlerhaften Anlieferung und Ausgabe von Stimmzetteln bis hin zu Unregelmäßigkeiten bei der Anlieferung der Stimmzettel. Somit sei die Landeswahlleitung „ihrer Kontroll- und Koordinierungspflicht nicht ausreichend nachgekommen“, erklärte das Gericht.

Dabei bemängelte das Gericht die teilweise eingeplanten Nachlieferungen von Stimmzetteln am Wahltag, obwohl die schwierige Verkehrssituation aufgrund der Sperrungen für den Marathon lange abzusehen war.

In den Augen des Gerichtes lag bereits ein Wahlfehler dadurch vor, dass die Wahlleitung bei den Vorberechnungen nur drei Minuten für jeden Wähler für den kompletten Wahlgang einplante. Für das Gericht war dies verwunderlich, da die Wahlzettel doch sehr komplex gestaltet waren. Dadurch wurde offenbar auch eine zu gering bemessene Zahl an Wahlkabinen aufgestellt.

Infolgedessen mussten viele Wahllokale zeitweise schließen oder es kam zu teils stundenlangen Wartezeiten. Einige Wahllokale versuchten sich mit aus Kartons selbst gebauten Wahlurnen zu behelfen. In anderen Wahllokalen wurden Stimmzettel kopiert, was unzulässig ist.

Dadurch kam es zu Abweisungen von Wählern und einer unbekannten Zahl an nicht abgegebenen Stimmen. Nachweislich dokumentiert und vom Gericht aufgeführt sind 10.000 Stimmen, die entweder ungültig sind oder nicht abgegeben wurden. Bei insgesamt zwei Millionen abgegebenen Stimmen sind das 0,5 Prozent.

Mit einer endgültigen Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtes wird für Ende Oktober gerechnet. Insgesamt hat das Gericht drei Monate lang Zeit, den endgültigen Beschluss vorzulegen. Sollte es beim jetzigen Ergebnis bleiben, müssen innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen erfolgen.

„Krise der Demokratie“

Die neun Richter des Berliner Landesverfassungsgerichtshofes befassten sich am Mittwoch zunächst mit vier von 35 eingereichten Wahleinsprüchen. Das waren die Einwände der Landeswahlleitung, der Senatsinnenverwaltung sowie von AfD und „Die Partei“. Im Vorfeld erklärte das Gericht, dass diese Verfahren geeignet seien, „alle relevanten Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlgeschehen abzudecken“.

Rechtsanwalt Uwe Wolfgang Kasper, Verfahrensführer für den Wahleinspruch der AfD-Fraktion, erklärte gegenüber Epoch Times: „Wir sind zunächst mal mit dem Ergebnis der Verhandlungen bis jetzt sehr zufrieden. Es erfüllt alle Erwartungen, die wir hatten, und es geht sogar ein bisschen darüber hinaus.“

Die AfD war die einzige Einspruchstellerin, die eine Wahlwiederholung zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen im gesamten Wahlgebiet, mit Ausnahme der in den Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten, forderte.

Das Gericht habe die Verfahrensfehler, die man im Großen und Ganzen genauso sehe, festgestellt, führte er weiter aus. „Es hat die Mandatsrelevanz der Verfahrensfehler für die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses festgestellt und es sieht als Rechtsfolge nur die ungültige Erklärung der gesamten Wahlen als Ausweg aus dieser Krise der Demokratie“, sagte Kasper.

AfD-Fraktionsvorsitzende zeigte sich positiv überrascht

Kerstin Brinker, AfD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, zeigte sich positiv überrascht: „Die Deutlichkeit des Verfassungsgerichts heute zu den exorbitanten Fehlern hat mich selber doch auch überrascht.“ Das Gericht spreche sogar davon, dass dies nur die Spitze des Eisberges sei, die das Gericht bisher gesehen habe und prüfen könne.

„Also insofern bin ich einerseits froh, weil wir heute einen guten Dienst an der Demokratie erwiesen haben“, sagte sie. Andererseits müsse jetzt aber auch schnell Klarheit eingeholt werden, damit tatsächlich die Wahlen auch wiederholt werden könnten und die Berliner Sicherheit hätten.

Raed Saleh, Fraktions- und Landesvorsitzender der Berliner SPD, erklärte zum vorläufigen Beratungsergebnis des Verfassungsgerichtes: „Das Gericht wird eine verfassungsrechtlich sehr wichtige Entscheidung treffen und hat gleichzeitig richtigerweise erklärt, dass das Berliner Abgeordnetenhaus bis zum Abschluss einer etwaigen Wiederholungswahl davon unabhängig vollständig weiterarbeiten muss.“

Epoch Times bat auch die anderen Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus um eine Stellungnahme, die jedoch bis Redaktionsschluss nicht eingetroffen sind.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde nur einmal zuvor eine Landtagswahl für ungültig erklärt. Am 4. Mai 1993 erklärte das Hamburgische Verfassungsgericht die Wahlen zur Bürgerschaft und zu fünf der sieben Bezirksversammlungen vom 2. Juni 1991 für ungültig. Das Gericht ordnete damals die Selbstauflösung der Bürgerschaft und zügige Neuwahlen an.



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