„NO-COVID“-Strategie: Kommt ein Lockdown bis zum Inzidenzwert von 10?

Mobilitäts-Kontrollen, Tests, Quarantäne. Die "NO-COVID"-Strategie, ein Papier von 13 Experten aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, könnte die Vorlage für weitere Maßnahmen der Corona-Politik in Deutschland bilden. Die Ministerpräsidenten und Bundeskanzlerin Angela Merkel müssen nun entscheiden, ob sie die Einrichtung von sogenannten "Grünen Zonen" und einen Inzidenzwert von Null anpeilen und damit die Maßnahmen für die Bevölkerung verschärfen wollen.
Titelbild
Lockdown (Symbolbild).Foto: Istockphoto/fermate
Von 19. Januar 2021

„Jede Infektion ist eine Infektion zu viel“, heißt es im Strategie-Papier von 13 „führende Expertinnen und Experten aus der Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft“, wie die Akademiker in einem „Zeit“-Beitrag bezeichnet werden.

Zu den Verfassern gehören auch die Virologin Melanie Brinkmann und der Physiker Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Sie haben laut „Zeit“ ihr Papier bereits am Montagabend (18. Januar) in einer Videokonferenz dem Kanzleramt und den Ministerpräsidenten vorgestellt.

Ziel der sogenannten „NO-COVID“-Strategie ist ein schnelles Absenken der Infektionszahlen auf Null. Um zu vermeiden, dass das Virus wieder eingeschleppt wird, sollen „Grüne Zonen durch lokale Mobilitäts-Kontrollen, Tests und Quarantäne“ errichtet werden. Für den Fall, dass neue Fälle sporadisch auftreten, gilt sodann nach Ansinnen der Autoren ein „rigoroses Ausbruchsmanagement“.

Mit einer derartigen Strategie haben sich mehrere Länder bereits eine „Rückkehr zur Normalität“ ermöglicht, heißt es zur Begründung. Aus diesem Grund sei der Weg auch für Deutschland und andere europäische Länder „möglich und richtig“.

Virus-Mutation als Treiber

Bezug nehmen die Autoren auf die sich „deutlich zugespitzte“ pandemische Lage aufgrund neuer Virusvarianten. So sei für die britische Mutation B.1.1.7. „klar belegt, dass sie infektiöser ist als bisherige Varianten“. Ob die Virusmutation auch gleichzeitig gefährlicher ist, lässt das Dokument offen.

Mit Blick auf die schützenswerte ältere Bevölkerung sei es „völlig unrealistisch, die Pandemie frei laufen zu lassen“, argumentieren die Autoren. Schließlich betrage der Anteil der vulnerablen Bevölkerung laut Schätzungen etwa 40 Prozent der Einwohnerzahl Deutschlands. Die Autoren rechnen damit, dass Langzeitfolgen von COVID-19-Erkrankungen auch bei milden Verläufen bei unter 65-Jährigen „anhaltende Gesundheitsschäden“ verursachen.

Kontrolle als Weg zur Freiheit

„Jede Infektion ist eine Infektion zu viel“, schreiben die Autoren. Man müsse weg „von reaktiver Schadensminimierung hin zu einer proaktiven Kontrolle der Pandemie, die alle sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Bereiche unserer Gesellschaft umfasst und ein klares Ziel hat, das eine Rückkehr zur Freiheit und Stabilität ermöglicht: NO-COVID“.

Dass es möglich sei, das Virus zu minimieren, habe sich „nach der ersten Welle“ in Deutschland gezeigt, als eine Inzidenz von 2,5 auf 100.000 Einwohner pro Woche erreicht wurde. Dass es sich dabei um völlig andere Voraussetzungen, nämlich weniger erfolgte Corona-Tests sowie einer wärmeren Jahreszeit, gehandelt habe, steht nicht in dem Papier. Jetzt solle jedoch versucht werden, „das Virus gemeinsam vollständig niederzuringen“.

„Die NO-COVID Strategie motiviert die Bevölkerung durch ein gemeinsames Ziel und zeigt den Bürgerinnen und Bürgern die Perspektive auf, die  ‚Eiertanz‘-Situation dauerhaft zu beenden“, heißt es in dem Dokument weiter.

Die Strategie vermittle, „dass wir Mitglieder einer Gemeinschaft sind, die selbst etwas tun können, um in ein normales Leben zurückzukehren, aber auch, dass im Gegenzug auf staatliche Maßnahmen und Hilfen Verlass ist“.

Grüne Zone im Zeichen der Solidarität

Das Ziel sei für alle, in einer sogenannten Grünen Zone zu bleiben und diese über Deutschland und Europa auszuweiten. Diese Grüne Zone soll durch einen Lockdown bis zur Inzidenz von 10, der sodann gen Null abgesenkt wird, erreicht werden. Selbst bei einem Inzidenzwert von über 10 wurde laut Maßnahmenplan der Stadt Melbourne, der als Beispiel von den Autoren angeführt wurde, in der Schule der Fernunterricht durchgeführt.

Tabelle 1. Foto: Screenshot NO-COVID-Strategie

Als Rechenbeispiel sei angeführt, dass in einer Kleinstadt mit 20.000 Einwohnern der Inzidenzwert von 10 erreicht ist, wenn nur zwei Einwohner positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden.

Die vorgelegte Strategie beinhaltet außerhalb der sogenannten Grünen Zone strikte Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen und wird durch strikte Quarantäne-Regeln, sowie durch eine effizient durchgeführte Teststrategie und Impfkampagne unterstützt.

Grenzschließung und Reisebeschränkungen

„Grenzschließungen und Reisebeschränkungen zählen zu den Maßnahmen der Mobilitätsreduktion, weshalb von ihnen positive epidemiologische Effekte erwartet werden können“, heißt es weiter. Aufgrund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen seien diese Maßnahmen „möglicherweise schwierig durchzusetzen“.

Eine effektive Kombination von Testen, Kontakt-Nachverfolgung und Quarantäne seien entscheidend. Bei neuen Ausbruchsgeschehen müsse eine „unmittelbare Reaktion“ alle neuen Infektionsketten unterbrechen. Letztendlich sei entscheidend, inwieweit die Nachbarländer sich der neuen Strategie anschließen, um den Grüne-Zone-Status zu erhalten. Was das für neue Migranten, die nach Deutschland kommen, bedeutet, wird nicht erörtert.

Wirtschaft

Für die Wirtschaft bedeuten die Maßnahmen Hygienekonzepte, Schutzmaßnahmen und Homeoffice. Statt Fahrgemeinschaften sollen die Mitarbeiter möglichst auf „Individualverkehr“ setzen, um Kontakte auf „das unvermeidliche Maß“ zu reduzieren.

„Unter diesen Voraussetzungen gilt, dass Betriebe von Unternehmen des produzierenden Gewerbes geöffnet bleiben können, solange es nicht zu SARS-CoV2-Infektionen am Arbeitsplatz kommt, selbst wenn sie nicht in einer grünen Zone sind“, schildern die Autoren.

Pflegeheime

„Es sei darauf hingewiesen, dass der Schutz älterer Bevölkerungsgruppen kaum Einfluss auf den Pandemie-Verlauf hat, weil diese zu den Kontakten weniger beitragen“, heißt es in dem Papier weiter.

Schutzmaßnahmen für Pflegeheime und vulnerable Gruppen würden bislang scheitern, weil unter anderem die Hygienepläne ungenügend kontrolliert und umgesetzt werden. „Beispielhaft zeigt der Realitätscheck, dass Pausenräume oft wie pandemiefreie Bereiche genutzt werden und dies aber eher die Ausbreitung des Virus begünstigt.“

Kritisiert wird auch, dass nicht für alle Mitarbeiter und Besucher FFP2-Masken zur Verfügung stehen und dass Testkonzepte nur als Angebote und nicht als Verpflichtung formuliert sind.

Ein zweimaliger Antigen-Schnelltest in Pflegeeinrichtungen biete keinen Schutz. Vielmehr müsste zweimal pro Woche ein PCR-Test zum Einsatz kommen oder ein täglicher Schnelltest für alle Besucher und Mitarbeiter – einschließlich Kantinen-Personal und Reinigungskräfte, schlagen die Autoren vor.

Ob das Papier in der heutigen Beratung von den Ministerpräsidenten als Grundlage dient und auf dieser Basis neue Beschränkungen erlassen werden, bleibt abzuwarten.

Die Unterzeichner des NO-COVID-Strategie-Papiers sind:

  • Prof.Dr. Menno Baumann (Pädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf)
  • Dr. Markus Beier (Medizin, Allgemeinmediziner, Vorsitzender Bayerischer Hausärzteverband)
  • Prof. Dr. Melanie Brinkmann (Virologie, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung)
  • Prof. Dr. Heinz Bude (Soziologie, Universität Kassel)
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest (Ökonomie, ifo Institut und LMU München)
  • Ass. jur. Denise Feldner, M.B.L. (Jura, Technologierecht, Crowdhelix/KU Leuven Germany)
  • Prof. Dr. Michael Hallek (Medizin, Internist, Klinik I für Innere Medizin, Universität zu Köln)
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Ilona Kickbusch (Global Public Health, Graduate Institute Geneva, WHO-Beraterin, GPMB)
  • Prof. Dr. Maximilian Mayer (Politikwissenschaft Schwerpunkt Asien, CASSIS, Universität Bonn)
  • Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann (Physik, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung)
  • Prof. Dr. Andreas Peichl (Ökonomie, ifo Institut und LMU München)
  • Prof. Dr. Elvira Rosert (Politikwissenschaft, Universität Hamburg/IFSH)
  • Prof. Dr. Matthias Schneider (Physik, TU-Dortmund)

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