Nicht gelebte Demokratie: Meißen leidet an einem „Meinungsbildungs-Paradoxon“

Befragt man die Öffentlichkeit im Vorab zu einem bestimmten Vorhaben, könnte es passieren, dass diese etwas ganz anderes will als die Regierenden. Aus diesem Grunde fragt man besser gar nicht erst. Der Verwaltungs- und Rechtswissenschaftler Dr. Johannes Zeller erklärt am Beispiel der Lokalpolitik einer sächsischen Stadt, wie eine gemeinsame Meinungsbildungs- und Diskussionspolitik nicht mehr wahrgenommen wird.
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MeißenFoto: MATTHIAS HIEKEL/AFP/Getty Images
Von 29. März 2018

Meißen leidet an einem Meinungsbildungs-Paradoxon. Es gibt sehr wohl so etwas wie Meinungsbildung, der Prozess hat jedoch einen Defekt, nämlich die Nichtnutzung vorhandener Institutionen zur Meinungsbildung bzw. die verspätete Einschaltung dieser.

Diesen Widerspruch kann man als „nachgeholte Vor-Diskussion“ bezeichnen, d.h., die Reflexion auf Beschlüsse des Stadtrates erfolgt nicht vor der Beschlussfassung, sondern immer erst danach, wobei sich dann an dieser aufflammenden, jedoch schnell vergehenden Diskussion auch die Akteure beteiligen, die sich hätten im Vorfeld im Prozess der politischen Responsibilität mit den herrschenden Mindermeinungen befassen müssen, satzungsgemäß und gesetzesgemäß.

Es handelt sich dabei nämlich um Stadträte, Vorstandsmitglieder der Parteien, Parteimitglieder und um die sogenannte Bürgergesellschaft, häufig um Multifunktionäre, die in ihrer Person alles vereinen. Schätzungsweise gibt es in Meißen davon deutlich unter hundert. Dafür treffen diese sich jedoch gewollt oder ungewollt bei allen Gelegenheiten, bleiben jedoch unter sich. Häufig wird die Kritik, um diese handelt es sich nämlich fast immer, in der Lokalpresse, öffentlich im Internet auf Facebook oder parteiintern in gesperrten Internet-Foren geführt.

Selten werden Vorschläge gemacht, geht man doch davon aus, dass nach der Beschlussfassung sowieso nichts mehr zu machen sei, häufig gibt es persönliche Angriffe gegen die ausführenden Verwaltungsmitarbeiter.

Die fraglos vorhandenen Institutionen und Rechtsnormen zur rechtzeitigen, d.h. vorherigen, Einflussnahme werden nicht genutzt. Die Satzungen aller im Stadtrat vertretenen Parteien verpflichten die Mandatsträger zur ständigen Rechenschaftslegung.

„Sitzungen der Stadtratsfraktionen sollten öffentlich abgehalten werden“

Dazu gehört auch, dass die Sitzungen der Stadtratsfraktionen öffentlich abgehalten werden. Nichtöffentliche Fraktionssitzungen wären dann gerechtfertigt, wenn Gegenstände beraten werden, die der allgemeinen Verschwiegenheitspflicht unterliegen; wenn das öffentliche Wohl, die Interessen der örtlichen Gemeinschaft gefährdet wäre; wenn die Rücksichtnahme auf berechtigte Interessen Einzelner das erfordert; wenn die Position der Fraktion bei der kommunalpolitischen Willensbildung in der Gemeinde oder in der Auseinandersetzung mit politischen Kontrahenten geschwächt würde. Die Geheimhaltungspflicht gilt jedoch nur in engen Grenzen, sie muss für jeden Einzelfall begründet sein – stellt also eine strikte Ausnahme dar.

Die Verpflichtung zur Geheimhaltung soll zum einem dem Datenschutz des betroffenen Bürgers dienen und zum anderen einen Schutz der Gebietskörperschaft bewirken.

Insbesondere ist über alle in nichtöffentlicher Sitzung behandelten Angelegenheiten solange Verschwiegenheit zu wahren, bis das entsprechende Gremium im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden die Schweigepflicht aufhebt. Diese Pflicht erstreckt sich auf den gesamten Verlauf der Verhandlung und nicht nur auf das Ergebnis.

Das Gebot zur Verschwiegenheit verliert jedoch seine Bindungskraft, wenn die öffentliche Erörterung im Interesse des Wohls der Gemeindebewohner wünschenswert oder sogar notwendig ist, insbesondere wenn es um die Offenlegung von Missständen geht.

Dies aber ist in einer kleinen Kommune, wie in Meißen, der Regelfall.

Also – GRUNDSÄTZLICH ÖFFENTLICH – AUSNAHMSWEISE NICHTÖFFENTLICH – nicht aber umgekehrt.

„Die wichtigste Reform besteht darin, radikal das Öffentlichkeitsprinzip durchzusetzen“

Ein weiteres Meißener Problem ist die Rolle des Ältestenrates als Vorparlament, item „Glattbügler“ oder „Beschleuniger“.

Misstrauen in dieses Organ, der KEIN Ausschuss im eigentlichen Sinne ist, entsteht schon dadurch, dass es GRUNDSÄTZLICH nichtöffentlich tagt.

Faktisch wurde im Laufe der Jahre der Ältestenrat zu einem Beirat für geheim zuhaltende Angelegenheiten gemacht (§ 46 GO SächsGemO), der aber ausdrücklich in der Meißener Hauptsatzung gar nicht vorgesehen ist.

Der Ältestenrat ist kein Ausschuss im Sinne der §§ 41, 43 SächsGemO; und steht also keinesfalls über dem Stadtrat.

Ein möglicher Beirat für geheim zu haltende Angelegenheiten, § 29 der Geschäftsordnung des Stadtrates, besteht nicht.

Trotzdem tagt der Ältestenrat grundsätzlich nichtöffentlich, auch Sozial-und Kulturausschuss tagen oft nichtöffentlich, dito der Verwaltungsausschuss.

So entstehen ganz schnell selbstreferentielle Systeme; Luhmann schreibt in seinem Buch „Soziale Systeme“:

„Es gibt selbstreferentielle Systeme. Das heißt zunächst nur in einem ganz allgemeinen Sinne: Es gibt Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt.“ (1993, S. 31)

Informationselite

Es handelt sich also um eine kleine aber bestens informierte Personengruppe, die die öffentlichen Angelegenheiten „unter sich“ aushandelt, mithin um eine Informationselite.

Die „Wissenden“, so der von mir gewählte Name für dieses selbstreferentielle System in Meißen, sind in den im Stadtrat vertretenen Parteien zwar in der Minderheit, gegenüber der Mehrheit der Parteimitglieder jedoch durch die Fülle der von Ihnen gehaltenen oder preisgegebenen Informationen klar im Vorteil. Die demgegenüber nicht mit den Informationen ausgestattete Mehrheit der „einfachen“ Parteimitglieder befindet sich dadurch ständig wegen Fehlens der notwendigen Informationen in einer defensiven oder gar widerständigen Position zur „herrschenden“ Meinung und es entsteht eine Meinungsoligarchie, die sich nach und nach institutionalisiert.

So klagte schon Michels 1911 in seinem Werk „Zur Soziologie des Parteiwesens“, bis heute ein Klassiker von Politik- und Sozialwissenschaften, Parteienforschung, Elitensoziologie und Organisationstheorie, dass Minderheiten in den Parteien nicht gehört werden.

Für die innerparteiliche Demokratieforschung ist das Oligarchiegesetz nach wie vor „primärer Bezugspunkt“ (Oskar Niedermayer).

Reform tut Not, zuallererst durch die Mandatsträger aller Parteien selbst und durch die Meinungsbildung in den Institutionen, die fraglos vorhanden sind, aber nicht genutzt werden, wie Mitgliederversammlungen der Parteien, Sprechstunden der Stadträte, gemeinsame VOR – Diskussion von Beschlussvorlagen für den Stadtrat, gemeinsamer Entwurf von Beschlussvorlagen für den Stadtrat, Öffentlichkeit bei den Sitzungen der Ausschüsse.

Die wichtigste Reform besteht darin, radikal das Öffentlichkeitsprinzip durchzusetzen. Politische Repräsentation verlangt, dass repräsentatives Handeln jederzeit personalisiert zurechenbar ist.

Zur Person: Dr. Johannes Zeller studierte Verwaltungswissenschaften in Weimar und Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin. 2013 promovierte er in dem Fach an der Universität Rostock. Er lebt in Meißen.

Siehe auch:

Sorge über „rechte“ Tendenzen in Sachsen: Früherer Bürgerrechtler will Oberbürgermeister von Meißen werden

Meißen: Angriff auf Bürgerbüro von Bundesinnenminister de Maizière



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