Nach der Omikron-Welle – Wie sieht die Pandemie-Zukunft aus?
Die Omikron-Welle gilt nun auch in Deutschland vorerst als gebrochen. Eine flächendeckende Überlastung des Gesundheitssystems scheint nicht zu befürchten. Bund und Länder einigten sich zuletzt auf weitreichende Lockerungen in den nächsten Wochen.
Die Pandemie, so heißt es, geht in eine „neue Phase“. Doch was heißt das? Aus der Wissenschaft mehren sich mahnende Stimmen: Der weitere Verlauf bleibe eine Rechnung mit vielen Unbekannten.
Experten gehen, wie in den letzten zwei Jahren, von einer klaren Entspannung der Infektionslage in der wärmeren Jahreszeit aus. Bis zum Frühling sollen in Deutschland die meisten Maßnahmen fallen. Ist jetzt wirklich bald Ruhe bis zum Herbst? „Ein Szenario ist, dass wir gut durch diese Welle durchkommen, dass wir trotz der Lockerungen, wenn sie sequenziell und vorsichtig passieren, in ein niedriges Inzidenz-Niveau im Sommer kommen“, bestätigt Corona-Modellierer Dirk Brockmann im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Hinter dem viel genutzten, aber abstrakten Begriff der „neuen Phase“ stehe aktuell die Hoffnung, dass man die Omikron-Welle, die „mit hoher Dynamik durch die Gesellschaft durchgerauscht“ sei, bald ganz hinter sich lassen könne und weitreichende Öffnungen vertretbar seien, erklärt der Physiker der Berliner Humboldt-Universität.
Vorsicht geboten
Brockmann mahnt aber direkt an: „Ich wäre damit sehr vorsichtig.“ Das derzeit große Veränderungspotenzial dürfe nicht mit einer generellen Entwarnung gleichgesetzt werden. Wie schon vor der Omikron-Welle bleibe künftig damit zu rechnen, „dass noch eine sehr lange Zeit immer wieder neue Varianten aufkreuzen werden und dann immer wieder neue Situationen entstehen“, prognostiziert der Experte. Bereits im Herbst könne es „wieder losgehen, je nachdem, wie stark die Impflücken geschlossen werden“.
Als Unsicherheitsfaktor für kurz- und mittelfristige Perspektiven gilt Omikron-Subtyp BA.2. Viele gesicherte Erkenntnisse gibt es noch nicht – man geht aber davon aus, dass er noch schneller übertragbar ist als die bislang in Deutschland vorherrschende Variante BA.1. Der Anteil von BA.2 wuchs laut Robert Koch-Institut (RKI) zuletzt kontinuierlich auf etwa 15 Prozent an. Setze sich der Subtyp weiter durch, so machte RKI-Vizepräsident Lars Schaade kürzlich deutlich, sei es „nicht auszuschließen, dass die Fallzahlen langsamer sinken oder auch wieder ansteigen“.
Corona ständiger Begleiter
Aus Wissenschaft und Politik wird die Einschätzung laut: Auch nach dem Omikron-Peak wird Corona mit seinen Varianten die Menschen noch länger begleiten. Wie das in den nächsten etwa 12 bis 18 Monaten aussehen könnte, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der britischen Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) jüngst in vier Szenarien modelliert – unter dem Vorbehalt, dass auch andere Entwicklungen denkbar sind. Dabei versuchen sie, Einflussfaktoren wie die Entwicklung neuer Virusvarianten, die Impfquote und schwindenden Immunschutz einzukalkulieren.
Das Ergebnis: Auf der einen Seite steht ein „Best-Case“-Szenario mit der Prognose, es werde zwar weitere Varianten geben, deren Übertragbarkeit sich aber nicht erhöhe und die nicht das Schwere-Niveau der Delta-Variante erreichten. Dem Virus gelingt demnach immer seltener die Immunflucht und im Herbst und Winter sei nur mit kleinen wieder auflodernden Wellen zu rechnen, selten mit schweren Erkrankungen.
Auf der anderen Seite steht ein „Worst-Case“-Szenario: Zu diesem gehören eine sehr hohe globale Inzidenz, unvollständiger Impfschutz und das wiederholte Auftreten unvorhersehbarer Varianten. Schon in den nächsten eineinhalb Jahren sei dann eine sehr große Infektionswelle mit zahlreichen schweren Fällen zu erwarten. Zwischen beiden Optionen gibt es noch ein eher optimistisches und ein eher pessimistisches Szenario.
Oft begangene Fehler vermeiden
„Diese Kategorien sind total vertretbar, weil sie nebeneinander stehen und betonen, es kann so oder so oder auch noch ganz anders kommen“, befindet Brockmann mit Blick auf die vier SAGE-Szenarien. So könne der in der bisherigen Pandemie oft begangene Fehler, von einem exakten Szenario auszugehen und angesichts anderer Entwicklungen überrascht zu werden, vermieden werden. Konkrete, besonders längerfristige Prognosen seien nämlich nur begrenzt möglich. Folglich sei es immer wichtig, mehrere Szenarien in Betracht zu ziehen.
Der Virologin Sandra Ciesek zufolge sind die Modelle in gewissem Maße auch auf Deutschland und andere Länder übertragbar. Sie zeigten allesamt, dass Covid-19 nicht verschwinde und man weiter damit leben müsse, sagte sie in der letzten Ausgabe des Podcast „Coronavirus-Update“ des NDR. Sie warnte davor, sich durch die sinkenden Inzidenzen und in Aussicht stehenden Lockerungen blenden zu lassen: Die Pandemie sei nicht zuende.
Der Modellierer Andreas Schuppert von der RWTH Aachen gibt trotz des sich andeutenden Überschreitens des Omikron-Gipfels zu bedenken, dass in den höheren Altersgruppen die Infektionen derzeit noch ansteigen. Der Peak bei diesen Menschen sei erst noch zu erwarten, weshalb noch etwas länger mit schweren Verläufen zu rechnen sei. „Wir müssen die Dynamik sehr genau beobachten“, so Schuppert.
Nicht das Ende von Corona
Viele Experten sehen die Entwicklung der Pandemie in einen endemischen Zustand näher rücken. Modellierer Brockmann macht aber auch deutlich: Aus seiner Sicht wird auch dieser vielfach mit Sehnsucht erwartete Übergang nicht das Ende von Corona bedeuten. „Das wäre zu kurz gedacht.“
Endemisch ist eine Krankheit, wenn sie in einer Region mit relativ konstanter Erkrankungszahl dauerhaft auftritt. Dazu gehört etwa die Grippe, die wie Covid-19 einem saisonalen Muster folgt. Ein weiteres Beispiel ist Malaria: Die Krankheit tritt in den betroffenen Ländern auf unterschiedlichem Niveau fortwährend auf.
Auch das Coronavirus werde weiter zirkulieren, auch wenn es dann für die Gesamtbevölkerung mutmaßlich weniger gefährlich sei, so Brockmann. „Uns muss bewusst sein, dass Corona ein Problem ist, das uns noch viele Jahre beschäftigen wird. Vielleicht nicht in der Intensität wie jetzt, aber mit neuen Überraschungen, neuen Varianten, die kommen können.“ (dpa/red)
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