Moralbook und WerteTube: ARD-Vorsitzender Wilhelm will Europas Demokratie gegen Amerikas Freiheit verteidigen
Ein „europäisches YouTube“, eine integrierte digitale Infrastruktur von Sendern, Verlagen und Institutionen als Gegengewicht zu den US-Größen – das schwebt ARD-Chef Ulrich Wilhelm vor, wie er im Interview mit dem „Handelsblatt“ ausführt. Vorbild für dieses paneuropäische Projekt sei Airbus. Dessen Passagierflugzeug A380 fährt zwar bis heute Verluste ein und die Militärmaschine A400M trug lange Zeit den schmückenden Beinamen „Pannenvogel“. Die Sendung, die Wilhelm im sich verspürt, scheint jedoch zu wichtig zu sein, um sich mit solchen Banalitäten aufzuhalten.
Obwohl YouTube, Facebook oder Google in den USA selbst vermehrter Kritik ausgesetzt sind, politisch einseitig zu agieren und insbesondere konservative Anbieter durch willkürliche Sperren, Reichweitenbeschränkungen oder „frisierte“ Algorithmen zu behindern, vertraut der ARD-Vorsitzende ihnen nicht wirklich.
Was wir brauchen, ist eine europäische digitale Infrastruktur – eine Plattform von Qualitätsangeboten im Netz, an der sich die öffentlich-rechtlichen, die privaten Rundfunkanbieter, die Verlage, aber auch Institutionen aus Wissenschaft und Kultur und viele andere beteiligen können“, erklärt Wilhelm im Handelsblatt-Interview.
„Für eine annähernd vergleichbare Reichweite brauchen wir eine Art europäisches Youtube mit Elementen von Facebook für den direkten Austausch mit den Nutzern sowie einer guten Suchfunktion – also ein Angebot, das von Youtube, Facebook und Google gelernt hat, aber auf europäischen Idealen von Vielfalt, Qualität und Offenheit aufbaut.“
„Der Markt ruft danach“
Für dieses Experiment sollen noch nicht exakt bezeichnete Geldgeber fürs Erste 50 Millionen Euro springen lassen, Rundfunkgebühren seien dafür nach derzeitigem Stand nicht eingeplant. Deutschland und Frankreich sollten die Federführung bei diesem Projekt übernehmen, meint der frühere Regierungssprecher unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für seine Initiative habe er bereits Gespräche in Berlin, Paris und Brüssel geführt, die ihn zuversichtlich stimmen würden.
Die US-Anbieter sollen, so generös will Wilhelm dann schon bleiben, zwar nicht „ausgeschaltet“ werden, aber es gehe darum, eine weitere Option am Markt zu schaffen – die an einem „runden Tisch“ vorbereitet werden soll. Dies „gerne mit der ARD und anderen Akteuren unter Moderation der Politik, um eine solche europäische Plattform auszuarbeiten. Das könnte noch in diesem Jahr passieren“.
Dass es sich dabei um eine bloße Kopfgeburt handeln könnte, der keine reale Nachfrage auf dem Markt entsprechen würde, weist Wilhelm zurück. Nein, „der Markt ruft danach“.
In Europa stünden „hunderte Millionen Nutzer für eine neue Plattform bereit, die in unserer europäischen Kultur und Rechtsordnung wurzelt“. Das sei der wichtige Unterschied. Denn die US-Plattformen „spielen nach ihren Regeln – dort wird beispielsweise Nacktheit als etwas Schlimmeres angesehen als die Leugnung des Holocausts und entsprechender Content gelöscht“.
Dass die Leugnung des Holocausts nach deutschem Strafgesetz völlig unabhängig davon, ob der entsprechende Content auf Facebook gelöscht wird oder nicht, jedenfalls strafbar ist und Beiträge dieser Art deshalb jetzt schon strafrechtlich geahndet werden können, ficht Wilhelm offenbar nicht an. Ebenso wenig wie der Umstand, dass die USA trotz eines umfassenden Verständnisses von Redefreiheit im Unterschied zu Europa keinen Holocaust und keine totalitären Diktaturen erlebt haben – was man jetzt nicht unbedingt als einen Pluspunkt für die „europäische Kultur und Rechtsordnung“ verbuchen könnte.
Algorithmenland in Politikerhand
Auch die Algorithmen müssen nach Wilhelms Überzeugung in Volkseigentum überführt werden, da er europäische Internetnutzer offenbar nicht für reif genug hält, selbst zu entscheiden, was sie sehen oder lesen wollen. Wilhelm erklärt offen, dass die Politik das letzte Wort darüber haben soll, was Nutzer sehen und worüber sie reden dürfen:
„Die Software lenkt im Netz die Sichtbarkeit von Inhalten. In Europa haben wir die Kontrolle über diese steuernden Algorithmen an private US-Firmen abgegeben. Damit haben wir die Frage, welcher Inhalt mit welcher Relevanz veröffentlicht wird, nicht mehr in der Hand. Das ist bedenklich, wenn es um politische Inhalte oder gesellschaftlich wichtige Themen geht und wirft auch Fragen der Souveränität auf: Europa ist in Gefahr, die digitale Hoheit über seine prägenden Werte zu verlieren.“
Die Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, ein „europäisches Netflix“ zu schaffen – möglicherweise für Fassbinder-Remakes oder volkspädagogische Antworten auf „Stranger Things“ – geht ihm nicht weit genug. Man müsse „größer denken“.
Die geplante europäische Plattform soll „Suchfunktion, Interaktion mit Nutzern, gemeinsame Login-Systeme“ beinhalten. „Und ein anderer bürgerfreundlicherer Umgang mit Big Data. Auf der Plattform sollten viele unterschiedliche Inhalte und Geschäftsmodelle integriert werden.“
Dass diese Gedankenspiele selbst den Handelsblatt-Interviewer an die staatlich gelenkte Plattform WeChat in der Volksrepublik China gemahnen, bringt Wilhelm nicht ins Grübeln. „WeChat ist direkt mit Staatsinteressen verbunden“ – seine Vorstellung eines staatlich initiierten sozialen Supernetzwerks hingegen nicht, diese orientiere sich „an freiheitlichen Werten“.
Öffentliche Banken sollen angezapft werden
Deshalb solle, um einen ersten Prototyp für eine solche Infrastruktur schaffen zu können, „unter Moderation der Politik könnte danach mit vielfältigen Inhalteanbietern gesprochen werden“. Ein solches digitales Ökosystem in Europa zu initiieren sei „eine staatliche Aufgabe, auch wenn am Ende eine staatsferne und unabhängige Trägerschaft stehen muss“.
Auf Nachfrage deutet Wilhelm dann doch noch grob an, wie er Geld für sein Projekt requirieren möchte, ohne gleich in die Gebührenschatulle zu greifen oder den Bundeshaushalt direkt zu belasten:
Das könnte für den Anfang Wagniskapital öffentlicher Banken sein, aber auch Stiftungsgeld. Wir kennen viele Finanzierungsformen an der Nahtstelle zwischen öffentlichem und privatem Interesse, wie in der Telekommunikation oder bei der Verkehrsinfrastruktur.“
Wenn sich dann auch noch Frankreich an einer Anschubfinanzierung beteiligt, könne man dann darauf warten, bis die Nachfrage von selbst kommt: „Dann müssen die Kräfte des Marktes aktiv werden.“
Dass auch Europa mit seinem grenzenlosen Vertrauen in das segensreiche Wirken des Staates nicht einfach so tun kann, als wären die erfolgreichen Innovationen US-amerikanischer Technologieunternehmen seine eigenen, ist auch dem ARD-Chef bewusst. Entsprechend nimmt er Anleihen beim früheren US-Präsidenten Barack Obama und dessen Botschaft an Unternehmer: „You didn’t build that.“
Damit wollte er sagen, dass das Silicon Valley nicht entstehen hätte können ohne das Pentagon und dessen Innovationsagentur. „Die US-Unternehmen haben durch exzellente unternehmerische Initiative inzwischen eine derartige Marktkraft mit gewaltigen Mengen an Nutzerdaten, dass Start-ups aus Europa aus eigener Kraft nicht mehr gleichziehen können“, meint Wilhelm. Auch deshalb solle der Staat an der Wiege seines großen Wurfes in Statu nascendi stehen.
Nur „Populisten“ laufen gegen das Projekt Sturm
Anders als beispielsweise Facebook, dessen Grundidee es gängigen Mythen zufolge gewesen sei, dass ein paar schüchterne Studenten rund um Mark Zuckerberg eine Plattform schaffen wollten, um leichter mit Frauen ins Gespräch kommen zu können, ist die Idee hinter dem Wilhelm-Projekt keine aus dem täglichen Leben gegriffene. Aber es ist eine, die dem moralisch Guten zuzuordnen ist.
Es geht um nichts Weniger, als Europas Demokratie vor dem zu schützen, was die einen „abweichende Meinungen“, die anderen „Hass und Hetze“. Die US-amerikanischen Plattformen lassen diesen einfach zu viel Raum, meint der ARD-Chef:
„Demagogen aller Couleur nutzen die amerikanischen Plattformen längst für ihre Propaganda. Sie werden gegen eine europäische Plattform mobil machen, wenn diese Hass und Hetze erschwert. Da mache ich mir keine Illusionen. Denn damit würde ihr Geschäftsmodell – mit Fehlinformation zu manipulieren – angegriffen.“
Das europäische Social-Media-Modell hingegen soll Einigkeit und Tugendhaftigkeit fördern – und damit schon im Entwurfsstadium höheren Zielen dienen. Wilhelm dazu:
„Meine wirkliche Sorge als Staatsbürger gilt dem Zusammenhalt des Landes, auch von Europa. Deswegen bin ich aktiv geworden. Heute gilt: Je zugespitzter und emotionaler ein Inhalt im Netz ist, desto verlässlicher verbreitet er sich. Das führt zu Radikalisierung und Polarisierung. Die Folgekosten sind umso größer, je mehr Europa zerrieben wird. Demokratie braucht, wenn es darauf ankommt, eine ungeteilte, integrierte Öffentlichkeit statt immer mehr Teilöffentlichkeiten und Filterblasen, in denen sich nur die jeweils eigene Weltsicht bestätigt.“
Wer aber Teil dieser ungeteilten, integrierten Öffentlichkeit sein soll und darf, das soll dann wohl nicht von freien Markt wie in den USA, sondern von der Mehrheit der billig und gerecht Denkenden in Europa, anders ausgedrückt: von dessen „demokratischen Kräften“ entschieden werden. Ob das Projekt in Konkurrenz zu den verhassten US-Formaten erfolgreicher sein wird als bisherige Versuche von StudiVZ bis zu MyVideo, ist noch offen.
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