Mobilisierung gegen Rechtsextremismus: Debatte um Sinn und Wirkung der Massendemos
Mindestens 300.000 Menschen sollen am vergangenen Wochenende in mehreren Städten Deutschlands gegen rechte Tendenzen in der Gesellschaft und die AfD im Besonderen auf die Straße gegangen sein. Die größten Kundgebungen gegen die laut Verfassungsschutz in Teilen rechtsextremistische Partei fanden in München, Bremen, Hannover und Frankfurt am Main statt. Am Sonntag, 21. Januar, gab es auch Versammlungen in ostdeutschen Städten wie Dresden, Chemnitz oder Görlitz. Dort nahm unter anderem Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer teil.
„Geheimtreffen“ zur „Remigration“ bleibt weiterhin Anlass für Massendemos
Anlass der Kundgebungen ist nach wie vor der vor etwa zwei Wochen erschienene Bericht des Portals „Correctiv“ über ein privates Treffen vom vergangenen November nahe Potsdam. Neben weiteren Personen mit unterschiedlichem politischem Hintergrund hatten auch drei namhafte AfD-Politiker an diesem teilgenommen.
Organisiert hatte es unter anderem ein früherer Zahnarzt aus Düsseldorf, der in seiner Jugend bis Mitte der 1980er-Jahre im „bündischen“ Umfeld der NPD aktiv war. Referiert hatte unter anderem der als Rechtsextremist bekannte österreichische Publizist Martin Sellner. Er soll dem Bericht von „Correctiv“ zufolge zum Teil verfassungswidrige Forderungen zur „Remigration“ verbreitet haben. Dies sollte seiner Ansicht nach unter Umständen selbst deutsche Staatsangehörige betreffen.
Die anwesenden AfD-Politiker sollen Sympathie für die Forderungen zum Ausdruck gebracht haben – was erkennen lasse, dass verfassungswidrige und rassistische Vorstellungen dort konsensfähig wären. Die Betreffenden stellen den von „Correctiv“ geschilderten Verlauf in Abrede. Das Portal beruft sich auf mündliche Aussagen von „Quellen“, die offenbar bei dem Treffen anwesend waren.
Bislang wenig Auswirkungen auf Umfrageergebnisse der AfD
Inwieweit die Proteste einen Einfluss auf die Absichten potenzieller Wähler haben, ihr Kreuz am Wahltag bei der AfD zu setzen, ist ungewiss. Bis dato verharrt die Partei in Umfragen auf einem nach wie vor hohen Niveau von mehr als 20 Prozent. In mehreren ostdeutschen Ländern ist sie mit deutlich über 30 Prozent stärkste Kraft.
Auch Aussteiger aus der Partei berichten, dass Demonstrationen gegen die AfD eher zu einem Solidarisierungseffekt führen. Dies gelte selbst für Mitglieder und Anhänger, die bereits Zweifel am politischen Kurs der Partei hätten. Vor allem dann, wenn Gegenkundgebungen selbst keine Distanz zu Linksextremisten erkennen ließen, riefen diese eher Reaktanz hervor.
In Görlitz soll sich aus Rücksicht auf anwesende CDU-Politiker sogar die „Antifa“ bereiterklärt haben, für die Dauer der Rede von Ministerpräsident Michael Kretschmer die Bühne zu verlassen. Einem Bericht der „Welt“ zufolge warf dieser der AfD vor, jedes Thema zur Agitation gegen Nichtdeutsche zu instrumentalisieren:
„Es geht immer gegen Ausländer, es wird immer gehetzt, es wird immer verächtlich gemacht. Der Unterschied ist nicht zwischen einzelnen Parteien, sondern zwischen Demokraten und Extremisten.“
Streben die Demonstranten eine sinkende Wahlbeteiligung an?
Inwieweit der Reaktanzeffekt auch auf eine breitere Wählerschaft übertragbar ist, ist hingegen ungewiss. Im „Focus“ deutet Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen an, dass die Protagonisten der Demonstrationen auf andere Effekte setzen. Korte spricht dort von einem „Signalereignis für den Parteienwettbewerb“.
Zwar rechnet auch er mit einer teilweisen „Verhärtung mit Trotz-Wählern“, allerdings rechnet er auch mit einer „neuen Nachdenklichkeit, die aus AfD-Sympathisanten Nichtwähler macht“. Und es werde auch „bekehrte bürgerliche Wähler“ geben, die „wieder mittig tendieren“.
Ungewiss war in diesem Zusammenhang der Effekt von Massendemonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit zu Beginn der 1990er-Jahre. Damals hatte eine Welle rassistisch motivierter Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte Deutschland erschüttert. Dazu kamen Mordanschläge auf Einwandererfamilien wie in Solingen und Mölln.
Die Wahlbeteiligung war in dieser Zeit gegenüber den späten 1980er-Jahren tendenziell rückläufig. Dies schadete jedoch Parteien wie den Republikanern oder DVU nur bedingt. In Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein zogen sie in Landtage ein. In Bayern lagen die REP in Umfragen teilweise bei 20 Prozent.
Effekt der 1990er-Jahre wiederholbar
Erst der Asylkompromiss des Jahres 1993 und interne Querelen sorgten dafür, dass die Stimmenanteile der Rechtsaußenparteien wieder deutlich unter die Fünf-Prozent-Hürde sanken. Im Jahr 1998 schaffte die SPD unter Gerhard Schröder eine Mobilisierung zur Bundestagswahl 1998.
Im Laufe der 2000er fiel die Wahlbeteiligung wiederum deutlich ab. Auch dort, wo es vereinzelte rechte Wahlerfolge gab, wie 2001 jenen der Schill-Partei in Hamburg, blieb diese nur im unteren 70-Prozent-Bereich.
Die AfD profitierte ab Mitte der 2010er-Jahre hingegen davon, dass sie Nichtwähler an die Urne brachte. Wo die Wahlbeteiligung niedrig war, waren auch ihre Ergebnisse schlechter. Demgegenüber konnten vor allem Unionsparteien und Grüne von einer hohen Wahlabstinenz profitieren, weil ihre Wähler am stärksten dazu neigen, zur Wahl zu gehen.
Inwieweit sich die Erfahrungen der 1990er-Jahre auf heute übertragen lassen, ist jedoch ungewiss. Im Vergleich zu damals ist das Gemeinwesen politisch aufgewühlter. Die Folgen der Politik sind für den einzelnen Bürger spürbarer – und das Vertrauen in Parteien und Medien ist deutlich geringer. Zudem konnten die Demonstrationen der 1990er eine Radikalisierung bis hin zum Rechtsterrorismus des NSU nicht verhindern.
Auch Korte räumt ein, dass die meisten Unzufriedenen erst wieder „mittig“ wählen würden, wenn „die Politik wieder Leistungsversprechen einlöst und dringende Probleme löst“. Inwieweit Alternativen zur AfD auf dem Stimmzettel – wie BSW oder WerteUnion – zu einem Absinken des AfD-Stimmenanteils beitragen, ist unterdessen noch schwer abschätzbar.
Misstöne in München: Antisemitismus und „hirnlose Arroganz“ auf Demo gegen AfD
Unterdessen haben sich am Rande der Kundgebungen erste Irritationen und Unstimmigkeiten zwischen den Beteiligten gezeigt. In München hat der Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle (CSU), scharfe Kritik an der Versammlungsleiterin geübt.
Die „Klimaaktivistin“ Lisa Pöttinger hatte auf X nicht nur Genugtuung darüber geäußert, dass Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger eine Teilnahme an der Demonstration abgesagt hatte. Sie hat anschließend auch noch infrage gestellt, ob Politiker der CSU überhaupt willkommen wären. Spaenle bezeichnete den Vorstoß als „hirnlos, arrogant und demokratieschädigend“. Aiwanger hatte eine mögliche Instrumentalisierung des Protests durch Linksextremisten als Begründung für seine Nichtteilnahme genannt.
In München, aber auch in Münster, soll es zudem zu Eklats gekommen sein, als propalästinensische Kundgebungsteilnehmer israelfeindliche Transparente mit sich führten und proisraelische Teilnehmer eingeschüchtert haben sollen.
Wegen des aggressiven & übergriffigen Verhaltens der antisemitischen Gruppe Palästina Antikolonial auf der Demo in Münster, konnte das Jugendbündnis gegen Antisemitismus keine Rede halten. Zum Kampf für Demokratie gehört auch ein konsequenter Umgang mit Extremisten &Antisemiten! pic.twitter.com/2uiPFFhAo5
— Anna Staroselski (@AStaroselski) January 21, 2024
„Welt“-Kommentator attestiert Demonstranten „geschichtsvergessene Überspanntheit“
In Aachen hat sich der Protest einem Bericht der „Aachener Zeitung“ zufolge nicht nur gegen die AfD, sondern auch gegen die WerteUnion gerichtet. Für Irritationen sorgte dabei die indifferente Reaktion anwesender Polizeibeamter und berichtender Journalisten über ein von Demonstranten mitgeführtes Transparent.
„AFDler töten“ – und zwei Polizisten laufen nebenher.
Das Foto ist echt. Erschienen auf der Seite der Aachener Zeitung.
„Aachen macht mobil gegen rechte Hetze
Auch in Aachen hat der Protest gegen jüngste Verlautbarungen von AfD-Vertretern und erzkonservativen Mitgliedern der… https://t.co/9vclB0IcNT pic.twitter.com/jtQCXvg2DV— P. Debionne (@PDebionne77) January 21, 2024
Einige wollten in der Aufschrift „AfDler töten“ einen Mordaufruf erkennen. Ähnlich wie im Fall der bekannten „Nazis töten“-Wahlplakate der PARTEI macht jedoch das Satzzeichen am Ende den Unterschied zwischen einem Aufruf und einer Feststellung aus. Offenbar sah deshalb auch niemand einen Anlass, vor Ort einzuschreiten.
In der „Welt“ übte Chefkommentator Jacques Schuster deutliche Kritik gegen „geschichtsvergessene Überspanntheit“, die in manchen Stilisierungen der Demonstranten oder der AfD zum Ausdruck komme. In seinem Kommentar äußert er:
„Für die beschränkten Gemüter unter den Demonstranten verteilen Aktivisten sogar tatsächlich weiße Rosen. Selbst dem Begriffsstutzigsten soll klar werden, wogegen Widerstand geübt wird. Im Furor der guten Sache merkt offenbar keiner, wie anstößig sämtliche Vergleiche mit der Weißen Rose und der Nazizeit sind. Der Umkehrschluss verdeutlicht es: Wenn die Lage in Deutschland heutzutage der von 1933 oder 1943 ähnelt, dann kann es damals nicht so schlimm gewesen sein.“
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