Minderjährige wählen – 150-Prozent-Beteiligung und massenhaft ungültige Stimmen

Das Chaos bei der Durchführung mehrerer Wahlen in Berlin bringt immer neue Auswüchse zutage. Die Landeswahlleiterin bedauert mittlerweile, sich nicht stärker für die Entzerrung der zahlreichen Wahlereignisse und des Marathons eingesetzt zu haben. Doch letztlich hat die Berliner Regierung das Zusammenkommen all jener Dinge zu verantworten.
Von 5. Oktober 2021

Zahlreiche Wahlpannen in Berlin überschatten den historischen Wahltag am 26. September 2021. Die rot-rot-grüne Regierung in der Bundeshauptstadt muss eigentlich die drohenden chaotischen Verhältnisse vorausgesehen haben. Doch der Müller-Regierung war die Situation – mit der Organisation von Bundestagswahl und Abgeordnetenhauswahl – in Berlin offensichtlich noch nicht komplex genug. Man holte auch noch die Wahlen zu den zwölf Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) ins Boot, die Abstimmungen zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ und ließ noch knapp 30.000 Sportler aus 139 Ländern beim Berlin-Marathon durch die Stadt laufen.

Landeswahlleiterin

Das zu erwartende Chaos trat ein und hatte einen derartigen Umfang, dass die seit 2010 amtierende Landeswahlleiterin Dr. Petra Michaelis zurücktrat. In einem weiteren Statement am Dienstag, 5. Oktober, erklärte Michaelis:

Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in den ordnungsgemäßen und rechtskonformen Ablauf der Wahlen am 26. September 2021 in Berlin erschüttert ist.“

Michaelis bedauere dies zutiefst. Sie werfe sich vor, nicht vorausgesehen zu haben, dass es zu Überlastungssituationen und Überforderungen und infolgedessen zu Fehlern und Regelwidrigkeiten kommen würde: „Hätte ich diese Weitsicht gehabt, hätte ich versucht, mich mit großem Nachdruck für eine zeitliche Entzerrung der einzelnen Wahlereignisse sowie des sportlichen Events einzusetzen.“

Im weiteren Verlauf der Aufdeckung der Vorkommnisse wurden nicht nur über tausende ungültige Stimmen aufgrund von falschen Wahlscheinen berichtet, sondern auch von veröffentlichten Schätzungen statt Wahlzahlen.

Zudem gab es Wahlbezirke, in denen mehr Stimmen abgegeben wurden, als Wahlberechtigte dort leben, sodass dort eine Wahlbeteiligung von sage und schreibe 150 Prozent erreicht wurde. Manche Wähler konnten gar nicht mehr wählen, weil sie bis zu vier Stunden lang warten mussten. Deren Anzahl ist ungewiss.

Minderjährige konnten Bundestag wählen

Doch all dies war noch immer nicht genug: Nun sollen auch Minderjährige und EU-Ausländer sich möglicherweise und illegal an der Bundestagswahl und der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus beteiligt haben. Einem Bericht der „Welt“ zufolge wurden diverse Wahlunterlagen einfach zusammen in einen Briefumschlag gesteckt und auch an Minderjährige verschickt.

Mehrere Jugendliche hatten sich gegenüber der Zeitung ausgewiesen und erzählt, dass sie Stimmzettel für Erwachsene erhalten hätten. Dabei sind die beiden genannten Wahlen erst ab der Volljährigkeit für deutsche Staatsbürger zugänglich, im Gegensatz zu den auch am besagten Sonntag durchgeführten Bezirksverordnetenversammlungswahlen. Namentlich genannt werden wollten die Jugendlichen nicht.

Der Berliner Abgeordnete Marcel Luthe erklärte, er habe „persönlich von mehreren Fällen gehört, in denen Jugendliche und EU-Ausländer abstimmen durften“, so der Spitzenkandidat der Freien Wähler in Berlin. Laut Luthe würden diese Vorgänge auf eine „Missachtung der demokratischen Wahlgrundsätze durch den politisch verantwortlichen Senat“ hinweisen:

Wenn Unberechtigte gewählt haben und Berechtigte nicht wählen durften, sind die Wahlgrundsätze entscheidend verletzt.“

Der Politiker fordert nun eine Prüfung der Berliner Stimmen der Bundestagswahl und der Wahl zum Abgeordnetenhaus Berlin.

„Bedauerliche Einzelfälle“

Als Beispiel der Vorfälle wurde von „Welt“ ein Jugendlicher namens Nemer genannt, der für alle Wahlen und den ebenfalls erst ab 18 Jahren zugänglichen Volksentscheid Unterlagen zugeschickt bekam. Dann ging er mit seiner Mutter zusammen in ein Berliner Wahllokal, wies sich aus und erhielt die vier Wahlzettel, die er ausfüllte. Ein Wahlhelfer habe ihm dann gezeigt, welcher Stimmzettel in welche Urne gehöre.

Das Blatt fragte daraufhin beim Neuköllner Bezirkswahlleiter Kristian Schiemann nach und erfuhr, dass es leider nicht auszuschließen sei, „dass Wahlvorstände in Einzelfällen gegebenenfalls versehentlich auch unter 18-Jährigen die Stimmzettel für die Bundestagswahl und beziehungsweise oder den Volksentscheid übergeben haben“, so Schiemann, der angab, dass weder ihm noch dem Wahlamt derartige Erkenntnisse vorlägen.

Bei Lara und Antonio, beide 16 Jahre alt, war es ähnlich. Lara erhielt in einem Wahllokal in Berlin-Blankenburg alle vier Stimmzettel: „Ich war überrascht und ein bisschen aufgeregt, weil es meine erste Wahl war“, erklärte die Jugendliche. Dann hatte sie jedoch Bedenken und gab die drei Stimmzettel für Bundestag, Abgeordnetenhaus und Volksentscheid zurück. Nur an der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung nahm sie legitim teil.

Antonio wurde, nachdem er sich ausgewiesen hatte, im Wahllokal in Weißensee nicht nur sein Stimmzettel zur BVV-Wahl ausgehändigt, sondern gleich noch der zum Volksentscheid. Er hatte sich zwar noch gewundert, dann aber zusätzlich auch beim Volksentscheid mit abgestimmt.

Der für beide Wahllokale zuständige Wahlleiter Marc Albrecht konnte sich indes keinen Reim auf das Geschehene machen. Man könne die Schilderungen nicht nachprüfen, erklärte Albrecht auf Nachfrage. Wenn es stimme, seien das „bedauerliche Einzelfälle“ – und überhaupt: Die Jugendlichen seien dafür verantwortlich, nicht an Wahlen teilzunehmen, für die sie nicht zugelassen seien. Wie die „Welt“ berichtet, würden solche „Einzelfälle“ jedoch nicht einmal bei einer Nachzählung der Stimmen herauskommen. Die Teilnahme von Minderjährigen könne eigentlich gar nicht mehr nachgewiesen werden.



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