Merz hat „keine Eile“: Kooperation mit SPD und Grünen für manche Gesetzesvorhaben nach Vertrauensfrage

Der Fahrplan bis zur Bundestagswahl wird derzeit primär von SPD und Union bestimmt. Demnach könnte es nach der Vertrauensfrage unter anderem gemeinsame Beschlüsse zur Bundeswehr im Ausland, zur Telefonüberwachung, zur Stärkung des Bundesverfassungsgerichts und zur Abschaffung des Lieferkettengesetzes geben.
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Das Archivbild zeigt Rolf Mützenich (l., SPD) und Friedrich Merz (CDU). Die beiden Fraktionsvorsitzenden besprachen am 12. November 2024 Fragen zu einer künftigen Zusammenarbeit.Foto: via dts Nachrichtenagentur
Von 13. November 2024

Der Oppositionsführer, Kanzlerkandidat und Unionsfraktionsvorsitzende Friedrich Merz (CDU) und der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich (SPD) wollen sich das Heft des Handelns bis zur Bundestagswahl offenbar von niemandem mehr aus der Hand nehmen lassen.

Kurz bevor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Dienstagabend, 12. November 2024, im Beisein von Merz, Mützenich sowie der Grünen-Fraktionschefinnen Britta Haßelmann und Katharina Dröge seinen Segen für den Neuwahltermin 23. Februar gab, hatten sich Merz und Mützenich bereits auf eine gemeinsame Marschroute geeinigt.

Nach den Worten Mützenichs soll Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Vertrauensfrage nun schon am 11. Dezember schriftlich stellen. Der Bundestag solle am Montag, 16. Dezember, darüber abstimmen. Beim Entzug des Vertrauens könnte Scholz den Bundespräsidenten sofort bitten, den Bundestag innerhalb von 21 Tagen aufzulösen. Um den Wahltermin unter Ausnutzung der verfassungsmäßigen Maximalfrist von 60 Tagen einhalten zu können, müsste Steinmeier dies bald nach dem 25. Dezember tun.

Merz strebt Konsens mit „Rest-Regierung“ an – gegen „Zufallsmehrheiten“ mit AfD oder Linken

Merz hatte am Dienstag auf dem Branchentag des Gastronomieverbands DEHOGA betont, im Bundestag bis dahin nur noch jene „Dinge auf die Tagesordnung setzen“ lassen zu wollen, „die wir vorher im Konsens zwischen Opposition und restlicher Regierung vereinbart haben“. Es gehe ihm darum, „die Regierung und uns davor zu bewahren, dass wir plötzlich Zufallsmehrheiten im Saal mit der AfD oder mit den Linken haben. Ich will das nicht“ (Video auf X).

Nach Informationen des ZDF soll die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen einer Merz-Aussage zufolge frühestens nach der Vertrauensfrage beginnen. Bis zum 16. Dezember gebe es „keine Eile“.

Mitsamt den Stimmen der FDP (90 Sitze), der AfD (76), den neun fraktionslosen Abgeordneten oder der BSW-Gruppe (10) würde die Unionsfraktion (196) im Bundestag schon jetzt über eine 371- oder 372-Sitze-Mehrheit verfügen. 367 Stimmen wären nötig, um im Prinzip jeden Kurswechsel gegen den Willen der SPD (207) und der Grünen (117) durchzudrücken.

Eine restriktivere Migrationspolitik, die Ersetzung des Bürgergelds durch eine „neue Grundsicherung“, die „Aktivrente“, Leistungskürzungen für ukrainische Flüchtlinge – diese Beispielpunkte aus dem „Sofortprogramm“ von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ließen sich womöglich schon weit schneller realisieren.

Merz hätte sogar noch eine Option, um einen politischen Richtungswechsel zu beschleunigen: Er könnte sich nach Absprache per konstruktivem Misstrauensvotum mit den Oppositionsstimmen zum Kanzler wählen lassen und sich direkt danach selbst das Vertrauen entziehen lassen, um Neuwahlen einige Wochen früher stattfinden zu lassen. Doch an so einem Deal scheint Merz nicht interessiert, obwohl er am Tag nach dem Ampelbruch eine Neuwahl schon innerhalb der zweiten Januarhälfte verlangt hatte.

Bei der AfD-Co-Vorsitzenden Alice Weidel stieß die neue Zögerlichkeit von Merz am Dienstag auf Unverständnis: „Mit jedem Tag Taktiererei der CDU und CSU sterben in der Ukraine sinnlos Menschen, kommen Tausende von Messerstechern und Sozialsystemzerstörern über die deutschen Grenzen“, kritisierte Weidel auf einer Pressekonferenz, „der nächste Messermord geht auf das Ticket der Union“ (Video auf X). Merz verfolge lediglich das Ziel, sich mit den Stimmen von SPD und Grünen zum Kanzler wählen zu lassen. Ein Politikwechsel sei mit Merz deshalb „auf keinen Fall“ möglich, mahnte Weidel.

Union bietet Rot-Grün Zusammenarbeit in Einzelfällen an

Thorsten Frei (CDU), der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gaben unterdessen bekannt, dass ihre gemeinsame Fraktion bereit sei, „zwingende“ Gesetze noch vor der Neuwahl des Bundestags zusammen mit der rot-grünen Minderheitsregierung zu verabschieden.

Für Frei und Dobrindt kämen nach Informationen von n-tv die anstehenden Verlängerungen der Bundestagsmandate für vier Auslandseinsätze der Bundeswehr, Beschaffungsvorlagen für die Bundeswehr und das Gesetz zur Verlängerung der Telefonüberwachung im Fall eines Wohnungseinbruchdiebstahls über den 12. Dezember hinaus für ihre Zustimmung infrage. Zudem würden CDU und CSU auch das Gesetz zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unterstützen, das vorwiegend die Einflussmöglichkeiten von AfD und BSW beschneiden soll.

Ex-Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) betonte am Mittwochmorgen im „Deutschlandfunk“ (DLF), dass das BVerfG-Stärkungsgesetz noch in dieser Legislatur kommen müsse. Die FDP verstehe sich augenblicklich als „konstruktive Oppositionspartei“ (Audio auf DLF).

Nachdem der Kanzler im Oktober auf dem Arbeitgebertag versprochen hatte, das Lieferkettengesetz noch in diesem Jahr abzuschaffen, schloss sich Merz laut ZDF diesem Vorhaben am Dienstag an.

Die Grenzen der schwarz-rot-grünen Kooperation

Frei und Dobrindt sehen derzeit allerdings keinen Grund, weitere Projekte der rot-grünen Minderheitsregierung mitzutragen. So betrachte Frei die Verlängerung des Deutschlandtickets für den ÖPNV nach Angaben des DLF derzeit nicht als Aufgabe der Union. Bei der Erhöhung des Rentenniveaus über das Rentenpaket II, beim Steuerentwicklungsgesetz inklusive Abschwächung der „Kalten Progression“ und bei der Umsetzung der EU-Migrationsreform GEAS ist nach Informationen von n-tv ebenfalls nicht mit einer Unterstützung vonseiten der Union zu rechnen. Nach Angaben des ZDF gilt das auch für die Erhöhung des Kindergeldes.

Auch hinsichtlich der finanziellen Unterstützung für die Ukraine wolle die Union laut n-tv nicht die Rolle des „Mehrheitsbeschaffers“ übernehmen. Frei habe betont, dass im Haushalt 2025 bereits 4 Milliarden Euro für die Ukraine eingeplant seien. Das sei aus seiner Sicht genug für die Zeit bis zum Wahltermin im Februar.

„Ich sehe nicht die Notwendigkeit, dass man jetzt sozusagen zu Zeiten einer Minderheitsregierung noch weitreichende Finanzierungsentscheidungen in diesem Bereich treffen müsste“, zitiert n-tv den Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte nach Informationen des Fernsehsenders „Pro Sieben“ kurzfristig ein neues Sondervermögen für die Bundeswehr noch vor der Wahl gefordert. Laut „Tagesspiegel“ sind sowohl die Union als auch die FDP allerdings dagegen.

Bei der kalten Progression könnten die Grünen und die SPD nach ZDF-Angaben womöglich auf ihren Ex-Partner FDP bauen. Beim Deutschlandticket werde das aber kaum funktionieren: FDP-Fraktionschef Christian Dürr habe bereits darauf hingewiesen, dass die Verantwortung für eine monatelange Blockade bei den Grünen liege.

Unionsfraktion arbeitet an „Positivliste“

Ansonsten kündigte Dobrindt laut n-tv eine eigene „Positivliste“ voller Vorhaben an, die die Union noch vor der Neuwahl in den Bundestag einbringen wolle. Die Liste werde unter anderem einen „Comeback-Plan für die Wirtschaft“, Vorschläge für mehr innere Sicherheit und für eine andere Migrationspolitik enthalten.

Nach einem X-Eintrag der AfD-Co-Bundessprecherin Alice Weidel hatte die Unionsfraktion erst in der vergangenen Woche entschieden, keine eigenen Anträge mehr im Bundestag zu stellen – nach Interpretation Weidels, weil Friedrich Merz „Angst“ vor unterstützenden Stimmen aus der AfD-Fraktion habe.

In der Tat war kurz zuvor ein ursprünglich für den 8. November eingebrachter Unionsantrag für ein „Zustrombegrenzungsgesetz“ (BT-Drucksache 20/12804, PDF) unter dem Eindruck des Ampelbruchs von der Tagesordnung des Plenums zurückgezogen worden. Mit den Stimmen der CDU, CSU, AfD und womöglich auch der FDP hätte der Antrag eine Mehrheit bekommen. Weidel kündigte bereits an, dass die AfD-Fraktion „selektiv“ wieder jene älteren Anträge im Bundestag einbringen werde, die CDU und FDP bislang stets abgelehnt hätten.

Der neue Bundesfinanzminister Jörg Kukies (SPD) sieht nach Angaben des „Handelsblatts“ derzeit keinen Grund für eine Haushaltssperre. Man werde „gut durch das Jahr kommen“, und ab 2025 werde es eine „vorläufige Haushaltsführung“ geben.

Dass der Bundestag den Etat für 2025 noch vor Jahresende beschließen werde, halte Kukies für „unrealistisch“. Dadurch könnten sich Projekte zwar verzögern, die Welt aber gehe davon nicht unter.



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