Merkels „Vorsorge“: Härterer Lockdown trotz weniger Corona-Fällen
Obgleich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstag, 21. Januar, in der Bundespressekonferenz mit Genugtuung auf die jüngsten Infektionszahlen reagierte, sieht sie zurzeit keinen Anlass, den von ihr und den Länderchefs eingeschlagenen Kurs eines verlängerten und verschärften Lockdowns infrage zu stellen.
Mit Blick auf die jüngsten Zahlen des Robert Koch-Instituts, die einen signifikanten Rückgang der Corona-Neuinfektionen ausweisen, erklärte sie: „Die harten Einschnitte beginnen, sich auszuzahlen. Die Mühe lohnt sich.“
Corona-Inzidenzen höchst unterschiedlich verteilt
Merkel machte deutlich, dass nicht nur die Inzidenzwerte deutlich gesunken seien, zuletzt mit 119 auf den niedrigsten Wert seit dem 1. November 2020. Der Wert liegt dennoch deutlich über der Zielmarke von maximal 50 Fällen, die Merkel und die Ministerpräsidenten vorgegeben hatten. Zudem ist die Verteilung der Inzidenzzahlen uneinheitlich.
Während Landkreise wie Schleswig-Flensburg (37,3) oder Rotenburg/Wümme (38,5) die Maßzahl für den Lockdown bereits deutlich unterschreiten, befinden sich Teile Bayerns, Thüringens, Sachsens oder Brandenburgs immer noch in einem Bereich zwischen mehr als 200 und fast 400 in den vergangenen sieben Tage.
Was die Kanzlerin zudem noch unterstreicht, ist, dass die befürchtete Überlastung des Gesundheitswesens infolge einer Explosion der Corona-Infektionen nicht eingetreten ist und auch die Zahlen der COVID-Patienten auf den Intensivstationen sinken. Eine Überlastung in diesem Bereich zu vermeiden, bleibe jedoch vordringliches Ziel – und man könne „nicht warten, bis die Intensivstationen voll sind“.
Merkel sieht „noch Zeit für Vorsorge“
Deshalb warb sie für eine Verlängerung des Lockdowns bis in den Februar hinein. Merkel betonte weiterhin die Notwendigkeit, „die Ausbreitung so schnell wie möglich [zu] verlangsamen, nicht erst wenn es zu spät ist und die Zahlen schon hoch sind“. Es gelte, „eine dritte Welle der Pandemie und gegebenenfalls eine noch heftigere als jemals zuvor zu verhindern“. Merkel sicherte erneut zu, die Impfungen in Deutschland möglichst schnell voranzubringen.
In diesem Zusammenhang verwies sie auf Gefahren, die aus der Verbreitung der mutierten Corona-Variante B117 herrührten, die zuerst in Großbritannien diagnostiziert worden war und mittlerweile auch in Kontinentaleuropa nachgewiesen wurde.
Es gebe noch „erschreckend hohe Todeszahlen“ in Deutschland, sagte Merkel. Das mutierte Virus sei in Deutschland noch nicht dominant. „Trotzdem müssen wir diese Gefahr sehr ernst nehmen. Das kann ich jedenfalls uns allen nur raten.“ Die Ausbreitung müsse so weit wie möglich verlangsamt werden. Es sei noch etwas Zeit, um vorzubeugen. Daher ziele der längere Lockdown darauf, den Rückgang der Infektionen deutlich zu beschleunigen, bevor sich das mutierte Virus ausbreite.
„Geduld auf eine extrem harte Probe gestellt“
Merkel äußerte Verständnis für Unmut und Frust in der Pandemie, die von allen als Zumutung empfunden werde. Etwa bei Familien, Kultur und Wirtschaft werde „die Geduld auf eine extrem harte Probe gestellt“.
Bisherige Erkenntnisse, wonach die Ausbreitungsgeschwindigkeit der mutierten Variante deutlich höher sei, ließen die Politik zu der Einschätzung gelangen, dass die B117-Mutation auch für jüngst beobachtete, wellenförmige Steigerungen der Infektionszahlen in Großbritannien, Portugal und der Republik Irland verantwortlich sei.
Einer der Wissenschaftler, die angesichts der mutierten Variante eine Verschärfung der Lockdown-Maßnahmen gefordert hatten, ist der in Cambridge lehrende Molekularbiologe Rolf Apweiler. Dieser hatte im Vorfeld der jüngsten Bund-Länder-Runde erklärt, dass nichts zu tun bedeuten würde, „dass es in sechs bis acht Wochen hier wie jetzt in Großbritannien, Irland und Portugal wäre“.
Kritik aus der Fachwelt
Dieser Einschätzung widerspricht Klaus Stöhr, ein erfahrener Epidemiologe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der es für machbar hält, auch die mutierte Variante des Virus ohne nennenswerte zusätzliche Maßnahmen in den Griff zu bekommen.
Stöhr verwies zudem in einem Interview mit dem „Münchner Merkur“ auf die Einschätzung dortiger Gesundheitsbehörden, wonach auch der jüngste starke Anstieg der Infektionszahlen in Irland nicht durch B117 bedingt sei. Lediglich der prozentuale Anteil dieser Variante an den Infektionen insgesamt sei höher geworden. In den vergangenen zehn Tagen habe sich die Zahl der Neuansteckungen jedoch etwa um die Hälfte verringert.
Der Epidemiologe kritisierte darüber hinaus das Ziel eines Inzidenzwerts von 50 als gerade in der Winterzeit unrealistisch, da in der kalten Jahreszeit das Auftreten von Atemwegserkrankungen generell das zehn- bis fünfzehnfache Ausmaß der übrigen Monate des Jahres annehme. Die Regierung riskiere auch das Bröckeln der Akzeptanz der Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung, wenn sie lediglich auf Zwang setze und keine Positivagenda bieten könne.
Merkel: „Ich habe eine politische Grundentscheidung getroffen“
Auf der Pressekonferenz sprach der Publizist Boris Reitschuster Merkel auf die zuvor schon in mehreren Zeitungen geäußerte Kritik an, das Bundeskanzleramt habe kritische Wissenschaftler wie Stöhr oder auch den Virologen Hendrik Streeck gar nicht erst zur Bund-Länder-Konferenz eingeladen.
Stattdessen seien sogar radikale Kräfte der „Zero Covid“-Kampagne gehört worden, die für eine vollständige EU-weite Stilllegung der Wirtschaft eintreten und die Folgen durch Umverteilungsprogramme abfedern wollen.
Merkel erklärte, Wissenschaftler würden stets nur danach ausgewählt, was im Zentrum der Beratung stehe. Diesmal sei dies die mutierte Variante des Virus gewesen. Es seien auch Experten eingeladen gewesen, die in zentralen Fragen eine andere Meinung verträten.
Auch wenn sie die wissenschaftlichen Studien von Experten lese, die andere Auffassungen als sie verträten, stehe sie jedoch zu der politischen Grundentscheidung, die sie getroffen habe, und die liege in besonderem Maße auf der Vorsorge – „uns nimmt ja keiner die Entscheidungen ab“.
Ihr sei bewusst, dass es eine Gruppe von Wissenschaftlern gebe, die vor allem darauf setze, durch eine bessere Infektionsimmunität unter jungen Menschen zu einer zeitnahen Herdenimmunität zu gelangen. Sie habe jedoch vor allem die Gruppe der Menschen im Blick, wie sie etwa mit Corona in der Charité lägen, ein Durchschnittsalter von 63 Jahren aufwiesen und ein deutlich höheres Risiko eines schweren Verlaufs hätten.
Mit Blick auf diese erachte Merkel die alternativen Ansätze als nicht zielführend: „Da gibt es viele, viele Nuancen, diese Grundentscheidung treffe ich anders.“
Die Corona-Pandemie sei, so Merkel, „eine Jahrhundertkatastrophe im Sinne einer Naturkatastrophe“. Sie werde zurecht von allen als Zumutung empfunden, sei auch für sie emotional schwierig. Ihr sei bewusst, dass sie von den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland „eine Menge“ verlange.
(Mit Material von afp und dpa)
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