Merkel und Fukushima: Vom Ursprung des Atomausstiegs bis heute
Die nuklearen Unfälle in den japanischen Atomkraftwerken in Fukushima von 2011 waren offizieller Beweggrund der Regierung Merkel für den deutschen Atomausstieg.
Grund genug, über zehn Jahre später auf die japanische Insel Honshū und in die Region Tōhoku zu schauen, was nach der Katastrophe seitdem passiert ist. Eine Entwicklung, die nachgereicht auch die weitreichende Entscheidung der Bundeskanzlerin bewerten kann.
Noch im Herbst 2010 hatte die Merkel-Regierung zunächst den von der rot-grünen Vorgängerregierung beschlossenen Atomausstieg rückgängig gemacht und neue Laufzeitverlängerungen beschlossen. Wenige Monate später, am 11. März 2011, kam es im 8.750 Kilometer von Berlin entfernten japanischen Küstenort Fukushima zur Katastrophe. In drei von sechs Reaktorblöcken der dort aufgestellten Kernkraftwerke ereigneten sich nach einem verheerenden Tsunami schwerwiegende nukleare Unfälle.
Geschätzt zehn bis 20 Prozent der Menge radioaktiver Emissionen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl sollen damals freigesetzt worden sein und die Umgebung kontaminiert haben; die Reaktoren sind nicht mehr zu retten, ihr endgültiger Rückbau wird noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Das deutsche Bundesumweltministerium schreibt dazu:
„Die durch das Erdbeben hervorgerufene Flutwelle verursachte am Standort des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi den fast vollständigen Ausfall der Stromversorgung von vier der sechs Reaktorblöcke. Die Kühlung der Reaktoren wurde unterbrochen. Die Folgen: Es kam zu einer Kernfreilegung und daraufhin zu einer Kernschmelze. In den ersten Tagen des Unfalls gelangten erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt.“
Im entfernten Berlin tritt Angela Merkel am 14. März 2011, also nur wenige Tage nach der Katastrophe in Japan, mit ihrem damaligen Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) vor die Kameras und erklärt: „Die Ereignisse in Japan lehrten uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind.“ Die Lage, so Merkel, müsse neu analysiert werden.
Es folgt eine der – wie wir heute wissen – die deutsche Wirtschaft betreffend weitreichendsten Entscheidungen einer Bundesregierung. Schon drei Monate später teilt die Bundeskanzlerin dem Parlament in ihrer Regierungserklärung vom 9. Juni 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie und einen „Weg in ein neues Energiezeitalter“ mit.
Die Atomenergie würde die Risiken aller anderen Energieträger „bei weitem übertreffen“, so Angela Merkel damals. „Das Restrisiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert“, so Merkel über 25 Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986.
Die Katastrophe von Tschernobyl ist in der DDR ausgefallen
1986 war Angela Merkel an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda. Tschernobyl fand in Ost-Berlin außerhalb der Lesart Moskaus faktisch nicht statt. Der „Spiegel“ zitierte dazu die aus Thüringen stammende grüne Bundestagsvizepräsidentin:
„’Man könnte von gezielter Vergiftung reden‘, sagt Kathrin Göring-Eckardt, die grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Sie stammt aus Thüringen und erinnert sich noch gut an die Regale, die plötzlich voll waren mit Obst und Gemüse, das im Westen keiner mehr kaufen wollte. Im Osten allerdings auch nicht. […] Den liegen gebliebenen Salat verteilte die DDR-Führung in Schulen und Kindergärten.“ Das Magazin zitiert zudem Pastor Rainer Eppelmann, den letzten Verteidigungsminister der DDR und späteren Bundestagsabgeordneten (CDU): „’Atomkraft – Nein Danke!‘ durfte man hier nicht ungestraft als Sticker an die Jacke heften.“
In der DDR gab es demnach allenfalls ein Raunen. Die Bevölkerung mit einem westdeutschen Fernsehanschluss musste sich ihren eigenen Reim darauf machen. Die Physikerin Angela Merkel erklärte noch 1996 aus Anlass des zehnten Jahrestags der Katastrophe von Tschernobyl: „Ich habe als Physikerin ein eher rationales Verhältnis zur Atomtechnologie.“
Im Zusammenhang mit den Castortransporten erklärt die Bundesumweltministerin Merkel im Kabinett Kohl gegenüber dem grünen Bundestagsabgeordneten Joschka Fischer:
„Sie, Herr Fischer, wollen den Menschen einreden, dass ich – nur weil ich für etwas bin – nicht in der Lage oder gewillt sei, hierbei Recht und Gesetz einzuhalten. Oder umgekehrt soll es doch nur heißen – nur wenn man gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie sei, könne man auch zum Schutze der Menschen verantwortungsbewusst handeln. Ein solches Denken ist zutiefst diabolisch.“
Als Angela Merkel am 26. März 1995, also keine zehn Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl und kaum fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, das Endlager Gorleben im Wendland und die Frauen des CDU-Kreisverbands Lüchow-Dannenberg besuchte – sie wurde wegen der Proteste mit einem Helikopter eingeflogen –, bemerkte sie zur Frage der Entsorgung des radioaktiven Materials den versammelten CDU-Frauen gegenüber: „Auch beim Kuchenbacken in der Küche geht eben immer eine Kleinigkeit wie beispielsweise Backpulver daneben.“
16 Jahre später dann verkündete die Bundeskanzlerin 2011 den Ausstieg aus der Kernenergie. Der französische Nachbar reagiert zwar ebenfalls mit einer empfindlichen Überprüfung der Sicherheit der französischen Atomkraftwerke, aber Merkels Atomausstieg bleibt in Europa und weltweit ein Solitär.
Die französische Soziologin Sezin Topcu, Autorin eines Buches über den Atomstaat Frankreich, erklärte die französische Haltung 2021 gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ damit, dass Atomkraft in Frankreich „Teil der nationalen Größe“ sei.
Die aktuelle Entwicklung ist bekannt. Der Ukraine-Krieg und die Absage Deutschlands, weiterhin russisches Gas zu importieren, haben einen Energieengpass verursacht, der so weit geht, dass ein grüner Ministerpräsident den Bürgern Sparmaßnahmen empfiehlt wie jene, statt zu duschen, einen Waschlappen zu benutzen.
Die Kernschmelzen von Fukushima waren offizieller Beweggrund der Regierung Merkel für den Atomausstieg. Aber wie sieht es heute, über ein Jahrzehnt nach der Katastrophe tatsächlich in Fukushima, der Region Tōhoku und auf der japanischen Insel Honshū aus? Wie beurteilt Japan selbst heute die Lage vor Ort?
Die Folgen der Nuklearkatastrophe fielen milder aus als erwartet
Was die globalen Auswirkungen angeht, scheint der Schaden der Nuklearunfälle von Fukushima gegen null zu gehen, wie die den Grünen nahe stehende taz bereits 2012 feststellte.
Zum zehnten Jahrestag der Nuklearkatastrophe hat die deutsche Bundesregierung 2021 einen Fachbericht zur Lage in Fukushima veröffentlicht. Die tatsächlichen Opfer der Kernschmelze und Strahlung sind hier kaum festzustellen, denn der Bericht rechnet die Opfer des Tsunamis insgesamt mit ein, wenn auf Seite 40 von 20.000 Toten die Rede ist. Ein Fazit im Bericht lautet:
„Trotz zahlreicher Untersuchungen konnte bis heute der genaue Zustand der Reaktorkerne in den betroffenen Blöcken nicht abschließend ermittelt werden. Die Maßnahmen zur Stabilisierung der Anlage laufen weiter. Die langfristigen Planungen zum Rückbau und Sanierung werden noch über Jahrzehnte andauern. Insbesondere die Lösung der Frage der sicheren Lagerung von großen Mengen an schwachradioaktiven Abfällen wird hierbei von Bedeutung sein.“
Über den tatsächlichen Zustand der Region um Fukushima zehn Jahre nach der Katastrophe kann man dem Bericht wenig entnehmen.
Bereits weniger als drei Jahre nach der Katastrophe gaben japanische Behörden Entwarnung. Der österreichische „Standard“ schrieb im Februar 2014: „Eine neue Studie zur Strahlenbelastung in der Umgebung des Atomkraftwerks kommt zu einem erfreulichen Ergebnis.“ Eine Reihe von evakuierten Gebieten (circa 100.000 Personen waren evakuiert worden) sei wieder zur Besiedlung freigegeben worden.
Eine überdurchschnittliche Strahlenbelastung war bereits 2014 nicht mehr feststellbar, ergab eine Auswertung der Daten von knapp 500 Probanden, die mit Messgeräten ausgestattet wurden. Selbst die Versorgung der untersuchten Personen mit in der Präfektur Fukushima angebautem Gemüse ergab keine messbaren spezifischen Belastungen.
Und 2017 berichtete die „Welt“ von 65.000 Einwohnern einer Nachbarstadt Fukushimas, die kurz nach dem Unglück Dosimeter ausgehändigt bekommen hatten, Messgeräte, mit denen sich die individuelle Strahlenbelastung eines Menschen erfassen lässt. Die Geräte waren von einem Bürgermeister, der sich nicht allein auf die Maßnahmen der Regierung verlassen wollte, angeschafft und ausgeteilt worden. Die Auswertung ergab allerdings Erstaunliches:
„Die radioaktive Dosis für die Menschen in dem etwa 60 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernten Ort war demnach vier Mal niedriger, als die japanische Regierung vermutet hatte.“
Die Angst hat einen höheren Ausschlag als der Geigerzähler
Als eines der Hauptprobleme stellt sich heute, zehn Jahre nach dem Unfall, eher die Angst der Menschen als eine tatsächliche Strahlenbelastung heraus. Die Tagesschau berichtet im Juni 2022:
„Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima waren jahrelang mehr als 300 Quadratkilometer gesperrt. Seit dem Wochenende dürfen frühere Anwohner in einige Gebiete zurückkehren – doch nur wenige tun es.“
Auch hätten sich viele der Evakuierten längst anderswo neue Existenzen aufgebaut und seien dort heimisch geworden, so ein Bericht aus dem ARD-Studio in Tokio. Nur etwa vier von 30 Haushalten seien zurückgekehrt, berichten japanische Behörden.
Die „Zeit“ berichtet im März 2022, dass keiner der Todesfälle im Zusammenhang mit dem verheerenden Tsunami auf die Katastrophe von Fukushima zurückzuführen sei. Die japanische Regierung erschwere es allerdings, mögliche Ursachen für Schäden am Menschen genauer zu untersuchen:
„Allerdings sind seither rund 300 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Der Staat behauptet, es gäbe keinen Zusammenhang mit dem Atomunfall. Wenn die Kinder sagten, dass sie wegen der radioaktiven Strahlung an Krebs erkrankt seien, würden sie als ‚Täter von schädlichen Gerüchten gebrandmarkt, die den Wiederaufbau Fukushimas behindern‘, beklagt der Anwalt Kenichi Ido.“
Ein viel größeres Problem stellen, so die „Zeit“, die Zehntausenden Klagen auf wirtschaftliche Wiedergutmachung dar.
Das Bundesamt für Strahlenschutz im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums veröffentlichte im November 2020 einen Bericht mit dem Titel „Umweltfolgen des Unfalls von Fukushima: Die radiologische Situation in Japan“.
Bis auf die Information, dass ein einwöchiger touristischer Besuch in Fukushima City risikolos sei, werden hier aber kaum verwertbare Informationen gegeben, die auf einer Auswertung von in den vergangenen zehn Jahren erhobenen Daten in der Region um Fukushima basieren.
Tatsächlich erhobene Daten stellen fest, dass eine Erhöhung beispielsweise von Schilddrüsenkrebs mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen sei, dass in erheblichem Maße mehr Untersuchungen dahingehend durchgeführt wurden, wie der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) in Bezug auf Fukushima 2020 festgestellt hatte.
Ein Abschlussbericht konnte hier keinen Zusammenhang zwischen Strahlenbelastung und Erkrankungen feststellen.
Eine Studie von 2016 unter Beteiligung des Helmholtz-Zentrums München allerdings zeigte bei Föten und Neugeborenen für die Zeitspanne vom fünften Monat der Schwangerschaft bis sieben Tage nach der Geburt nach den drei Kernschmelzen von Fukushima erhöhte Sterblichkeiten in den höher kontaminierten Präfekturen näher den Unglücksreaktoren. Diese Sterblichkeitserhöhungen seien abnehmend mit zunehmender Distanz zu den Unglücksreaktoren.
„Klimaziele rechtfertigen keine Atomkraft“
Anfang 2020 kommentierte die „Deutsche Welle“ rückblickend den Atomausstieg von Angela Merkel als ihren „größten Fehler“ und nannte diese Entscheidung in einem Atemzug mit der Verweigerung, 2015 die Grenzen vor der Massenmigration zu schließen:
„Presse und Öffentlichkeit jubelten damals größtenteils über die Volte. War dies doch offenbar erstmals eine Bauchentscheidung der Kanzlerin. Die studierte Physikerin galt bis dato als kühl berechnende Naturwissenschaftlerin, stets zu Kompromissen bereit. Erst vier Jahre später, im berühmten Sommer 2015, entschied Merkel dann erneut entsprechend gefühlsgeleitet.“
Fast vergessen ist in dem Zusammenhang der CDU-Politiker Norbert Röttgen, der zum Zeitpunkt des Atomausstiegs nach Fukushima Umweltminister im Kabinett Merkel war. Noch 2021, zum zehnten Jahrestag der Katastrophe, verteidigte er Merkels Entscheidung zum Atomausstieg in einem Interview mit „Deutschlandfunk“. Der Sender fasst zusammen:
„Nach wie vor steht Röttgen zur Entscheidung von damals – auch wenn China, die USA und viele europäische Staaten weiterhin auf Atomkraft setzen. Es sei der richtige Weg, auf modernste Technolgien zu setzen, beispielsweise die Föderung von grünem Wasserstoff. China, das auf einen Mix aus Kernenergie und Kohle setze, befinde sich in einer Sackgasse, meint Röttgen. Atomkraft sei auch nicht mit dem Erreichen von Klimazielen zu rechtfertigen.“
Von unmittelbaren oder längerfristigen Folgen der Nuklearkatastrophe von Fukushima ist hier nicht mehr die Rede. Röttgens Argumente sind allerdings jene, welche die Anti-Atomkraft-Bewegung schon in ihrer Gründungsphase in den 1970er Jahren formuliert hatte.
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