Medienforscher: „Politikvertreter dominieren in den Talkshows“
Flavio von Witzleben: Herr Meyen, welche Aufgabe haben die Medien, die sogenannte vierte Gewalt, in einer liberalen Demokratie?
Prof. Dr. Michael Meyen: Meiner Meinung nach sollte die Presse alle unterschiedlichen Themen und alle unterschiedlichen Perspektiven auf die große Bühne bringen. Ich nenne das: gesellschaftlicher Auftrag Öffentlichkeit. Wir leben in einer komplexen, für den Einzelnen nicht mehr überschaubaren Gesellschaft.
Es muss eine Instanz geben, die uns ermöglicht, auf die anderen zu schauen – auf die, die andere Themen für wichtig halten, auf die, die andere Perspektiven auf diese wichtigen Themen haben als wir selbst. Das müssen Medien leisten. Das muss der Journalismus leisten. Ich brauche eigentlich nicht die Einschätzung der Journalisten zu diesen Themen, sondern ich möchte wissen, worüber die Gesellschaft diskutiert.
Flavio von Witzleben: Es gibt böse Zungen, die Journalisten unterstellen, sich im Zuge der Corona-Thematik zu politischen Aktivisten entwickelt zu haben. Gehen Sie da mit oder sagen Sie, das geht zu weit?
Prof. Dr. Michael Meyen: Es geht, glaube ich, sogar noch weiter. Wir erleben im Moment im Journalismus, im Beruf eine Debatte um die Berufsideologie: Was ist guter Journalismus? Man war sich bisher relativ einig, dass Hanns Joachim Friedrichs das Maß aller Dinge ist –sich mit keiner Sache gemein machen, auch dann nicht, wenn man es für eine gute Sache hält.
Was wir im Moment erleben, ist eine breite Front, die für das plädiert, was Sie gerade Haltungsjournalismus genannt haben. Farbe bekennen, Verantwortung übernehmen, sich als Aktivist betätigen, das auch transparent zu machen und darin überhaupt kein Problem mehr zu sehen. Ich sehe darin schon ein Problem, weil wir ja beobachten können, wozu das führt.
Zumindest ein Teil der Bevölkerung, wenn auch möglicherweise nur eine Minderheit, aber immerhin ein relevanter Teil, wird aus dem Raum des Sagbaren, aus dem öffentlichen Diskursraum ausgeschlossen. Wer seine Themen nicht mehr vertreten sieht, radikalisiert sich möglicherweise, sucht andere Räume, geht auf die Straße oder in Telegram-Kanäle, um seiner politischen Stimmung, seiner Gesinnung Ausdruck zu verleihen.
Das ist langfristig gesehen für die Gesellschaft ein Problem. Es ist für den inneren Frieden einer Gesellschaft ein Problem, wenn wir es nicht mehr schaffen, uns auf der großen Bühne Öffentlichkeit auf Augenhöhe zu begegnen, so zu begegnen, dass man respektvoll miteinander umgeht und den anderen nicht als Feind, als Problem, möglicherweise sogar als Biowaffe auf zwei Beinen sieht.
Flavio von Witzleben: Kritiker sagen, es lasse sich zunehmend eine Symbiose, eine Art Gleichklang aus politischen und den medialen Deutungen des Geschehens beobachten. Worauf ist dieser Gleichklang Ihrer Ansicht nach zurückzuführen?
Prof. Dr. Michael Meyen: Das ist eine komplexe Frage, weil da viele Mechanismen zusammenspielen. Man kann das erstmal beschreiben. Es gibt erste wissenschaftliche Studien, die sich mit den Medieninhalten seit März 2020 beschäftigt haben. Die zeigen zum Beispiel, dass in den großen Talkshows bei Illner, Plasberg und Anne Will hauptsächlich Exekutivvertreter zu sehen waren. Karl Lauterbach führt die Liste mit weitem Abstand an. Mit Markus Söder, Olaf Scholz und Helge Braun folgen Regierungsvertreter. Christian Linder ist der einzige Oppositionsmensch, der es auf eine zweistellige Zahl an Auftritten bringt.
Die Wissenschaft wurde in diesen Sendungen fast ausschließlich von Medizin und Virologie vertreten. Auch in den Printleitmedien dominiert die Perspektive der Politik. Bürger kommen kaum zu Wort. Das hat mit Nähe zu tun, mit der Nähe zwischen Politik und Journalismus, Nähe in jeder Hinsicht. Das beginnt mit der Habitusnähe.
Wir rekrutieren politische und mediale Eliten aus den gleichen Milieus. Das sind Mittelschichtmilieus mit Aufstiegsorientierung, die sich dann auch körperlich nah sind. Man muss sich das nur in Berlin anschauen. Das Hauptstadtstudio der ARD ist nur einen Steinwurf von den Machtzentren dieser Republik entfernt. Im Schatten dieser Machtzentren finden wir Kneipen, wo sich jeden Abend politische und mediale Eliten treffen.
Dann haben wir einen Ressourcenüberhang aufseiten der Politik. Wenn ich eine Zeitung führe, wenn ich eine Sendung mache, muss ich die irgendwie füllen. Ich muss sie jeden Tag füllen. Ich gehe dann dorthin, wo mir Quellen zur Verfügung gestellt werden.
Die Bundespressekonferenz ist ein sicherer Anlaufpunkt. Da werde ich jeden Tag Dinge bekommen, die ich problemlos in meine Zeitung, in meine Sendung einspeisen kann. Bei Gegenstimmen ist das nicht so einfach. Wenn sich irgendwo Protestbewegungen – bei jedem Thema, das ist völlig unabhängig von Corona – formieren, haben sie Schwierigkeiten, so eine professionelle PR-Struktur aufzubauen. Die Redaktionen sind klein. Selbst die großen Redaktionen sind klein im Vergleich zu den PR-Apparaten, die sich Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren aufgebaut haben.
Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hat 450 Mitarbeiterstellen. Und die größten innenpolitischen Redaktionen in Deutschland haben vielleicht 30 Kräfte. Und die müssen jeden Tag Zeitungen machen und etliche Seiten füllen. Sie haben überhaupt keine Zeit, mit den Apparaten zu konkurrieren, wobei das Bundespresse- und Informationsamt ja nur die Spitze des Eisbergs ist. Wir haben in jedem Ministerium solche Apparate, in jeder Partei. Jeder Spitzenpolitiker hat solche Apparate für Detailaufgaben.
Flavio von Witzleben: Aber ist es nicht zutiefst problematisch, wenn die Medien lediglich den politischen Diskurs und alles, was dort als legitim betrachtet wird, abbilden? Wäre die Aufgabe des Journalismus nicht vielmehr, darüber hinauszugehen und gesellschaftliche Wirklichkeiten abzubilden und diese auch perspektivreich darzustellen?
Prof. Dr. Michael Meyen: Ein Problem wird es nur dann, wenn die repräsentative Demokratie nicht funktioniert. Insofern kommen wir jetzt eigentlich zum Kern des Problems. Wir kommen zu den Dysfunktionalitäten der repräsentativen Demokratie. Wenn wir alle Positionen, die in der Bevölkerung da sind, alle Milieus im Bundestag entsprechend vertreten hätten, wäre es kein Problem, wenn der Journalismus nur eine Ableitung ist, sozusagen ein Index der politischen Debatte. Dann wäre der Journalismus einfach die Bühne, auf der sich die unterschiedlichen politischen Positionen begegnen könnten. Wir könnten das beobachten und bei der nächsten Wahl korrigierend eingreifen, wenn wir merken, da fehlt irgendwas. Wir könnten auch auf die Straße gehen. Wir könnten unsere Mittel als Bürger nutzen, Petitionen schreiben und ähnliche Dinge machen.
Wenn wir in den Bundestag schauen – wir müssen ja nur zur Berufsherkunft der Abgeordneten ein bisschen recherchieren und uns angucken, aus welchen Milieus die Parteienvertreter kommen –, dann finden wir schon dort eine problematische Verengung der Auswahl. Wir finden schon dort manche Milieus bei weitem nicht so repräsentiert, wie es nötig wäre, um den Austausch der Positionen in der Gesellschaft gewährleisten zu können.
Im Journalismus setzt sich das dann fort. Wenn wir in den Redaktionen eher Mittelschichtakademiker aus Großstädten haben, oft weiße Mittelschichtakademiker aus Großstädten, dann gibt es relativ wenig Berührung mit dem Leben einer Kassiererin, eines Lokführers, einer Schaffnerin, eines Menschen, der morgens um halb fünf die Bürogebäude saubermacht. Da fehlt der Austausch der Lebenswirklichkeiten. Auch über die Wohngebiete wird das nicht mehr sichergestellt, weil wir da eine Abschottung der einkommensstärkeren Milieus haben. Man zieht raus in grüne Speckgürtel, die für die unteren Schichten gar nicht mehr bezahlbar sind. Insofern kann der Journalismus auch soziostrukturell den gesellschaftlichen Auftrag Öffentlichkeit im Moment kaum erfüllen.
Wir müssten also für mehr Diversität in den Redaktionen sorgen, wobei Diversität nicht einfach bedeutet, mehr Frauen oder mehr Menschen mit anderer Hautfarbe zu haben. Wir bräuchten andere Lebenserfahrungen in den Redaktionen. Wir müssten den Berufszugang öffnen. Vor 30 Jahren war es nicht denkbar, dass nur Menschen mit Hochschulabschluss in den Redaktionen sitzen. Da saßen Abbrecher, da saßen Autodidakten, die ganz automatisch mit einer anderen Sprache gesprochen, andere Themen in die Öffentlichkeit gebracht haben als Menschen, die alle den gleichen Bildungshintergrund haben. Heute waren alle mit Erasmus im Ausland oder haben in den USA studiert, haben eine Weltreise nach Lateinamerika oder Asien gemacht. Das formt natürlich das Weltbild. Das formt das, was ich für wichtig und für weniger wichtig halte.
Flavio von Witzleben: Ein heute journal-Moderator hat betont, dass er in seiner Berichterstattung absolut frei sei und es keine übergeordnete Macht gäbe, die ihm sagt, was er zu schreiben und zu sagen hat. Ist es so, wie der Moderator sagt?
Prof. Dr. Michael Meyen: Punkt eins: Es gibt eine Vielzahl von Arenen, wo sich Politik und Journalismus begegnen, wo man sich permanent austauscht, wo man abgleicht, was gut und richtig ist, was „wir“ für gut und richtig halten. Als Journalist weiß ich, was die Politik für gut und richtig hält.
Punkt zwei: Es gibt die Anrufe, nicht permanent, nicht jeden Tag, aber es gibt Anrufe in den Redaktionen aus den Zentren der Macht, wo ich als Redaktion zurückgespielt bekomme, wie die Staatskanzlei das empfindet, was wir da gemacht haben.
Punkt drei ist, glaube ich, wichtiger und erklärt, warum der Moderator mit gutem Recht sagen kann, dass er nicht das Gefühl hat, gesteuert zu werden, dass er das Gefühl hat, frei arbeiten zu können. Mein Kollege sagte dazu, dass man nur in so eine Position kommt, wenn „erfolgreich sozialisiert“ wurde.
Ich arbeite hier mit dem Propagandakonzept von Jacques Ellul, einem französischen Theoretiker, der jetzt endlich auch auf Deutsch verfügbar ist. Dort geht es auch um politische Propaganda, um den Versuch von Parteien oder von Regierungen, die Öffentlichkeit für ihre Maßnahmen, für ihre Entscheidungen zu mobilisieren, diese Entscheidungen zu legitimieren.
Was für Jacques Ellul aber viel wichtiger ist, ist das, was er „soziologische Propaganda“ nennt – die Werbung für eine bestimmte Lebensweise, für eine bestimmte Ideologie, für ein bestimmtes Weltbild. Diese soziologische Propaganda beginnt in der Schule, geht an den Universitäten weiter, wird dann fortgeführt, wenn ich Volontär werde, wenn ich ein kleiner Redakteur bin.
Und nur diejenigen, sagt Jacques Ellul, die diese Lebensweise, diese Ideologie, die über soziologische Propaganda verbreitet wird, internalisieren, haben die Möglichkeit, an Sprecherpositionen wie dieser Moderator zu kommen oder einen Spielfilm in deutsche Kinos bringen zu können.
Nur erfolgreich sozialisierte Gesellschaftsmitglieder kommen in solche Sprecherpositionen und haben dann ganz natürlich das Gefühl, dass sie niemand steuert, dass ihnen niemand Anweisungen gibt, weil sie das von alleine machen. Sie haben das ihr Leben lang nicht anders gelernt. Auch das spricht für mehr Diversität in den Redaktionen.
Das Interview führte Flavio von Witzleben.
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