Massiver Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit – die Schattenseiten des Bürgergelds

Derzeit sind rund 930.000 Menschen in Deutschland mindestens ein Jahr ohne Job. Ein Ökonom bezeichnet ihre Chancen auf eine Wiederanstellung als enorm gesunken. Der DGB fordert mehr Geld für Jobcenter und Förderung.
Mehr Menschen in Deutschland haben sich arbeitslos gemeldet.
Die Anzahl der Langzeitarbeitslosen ist im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie stark angestiegen.Foto: Caroline Seidel-Dißmannel/dpa
Von 6. Februar 2024

Die Anzahl der Langzeitarbeitslosen ist im Vergleich zur Zeit vor der Coronapandemie gestiegen. Sie liegt derzeit um 200.000 höher, sagt der Arbeitsmarktökonom Enzo Weber in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche“.

„Wir haben nun seit vier Jahren Krise, und bei jedem Tief ist es uns gelungen, die existierenden Jobs zu sichern. Zugleich aber sind die Chancen, aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus einen neuen Job zu finden, enorm gesunken“, beschreibt er die aktuelle Situation.

Dadurch entstehe eine Spirale nach unten: „Arbeitserfahrungen und Qualifikationen veralten, es kommt zur sozialen Stigmatisierung. Die Bretter, die man bohren muss, werden immer dicker.“

Schwierige wirtschaftliche Situation

Das Bürgergeld habe dazu geführt, „dass die Jobaufnahmen aus der Grundsicherung zurückgegangen sind“. Es gebe aber Vorteile durch die Reform, etwa „in Richtung Qualifizierung und berufliche Entwicklung“. Aktuell sei es eine schwierige wirtschaftliche Situation. „Wenn sich die Konjunktur erholt, dürfte das eine leichte Entspannung bringen. Aber das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit wird uns noch lange begleiten“, prognostizierte Weber.

Zur Verschärfung von Sanktionen für Arbeitsverweigerer durch die Bundesregierung sagte er: „Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Sanktionen die Arbeitsaufnahme erhöhen. Sowohl bei den sanktionierten Personen als auch bei denen, die nicht sanktioniert werden wollen.“

Die Menschen passten ihr Verhalten an, wenn Konsequenzen drohten, das sei „ja Sinn der Sache“.

Streichen des Bürgergelds „problematisch“

Sanktionen hätten jedoch auch eine Kehrseite: „Sie zwingen Menschen teilweise in schlechte und nicht nachhaltige Jobs, die nicht zu ihnen und ihren Qualifikationen passen.“ Ein komplettes Streichen des Bürgergelds, wie es die Regierung zeitlich befristet plane, hält Weber „für problematisch“.

Ohne Sanktionen gehe es zwar nicht, „aber der Staat braucht das richtige Maß. Wenn Sie richtig hart zulangen, wenden sich Menschen womöglich vom System ab und verschwinden aus der Arbeitsvermittlung. Damit ist nichts gewonnen“, erläutert er seine Bedenken.

Aus seiner Sicht wäre ein Mittelweg „zwischen sehr laxen und sehr harten Regeln“ sinnvoll. So müsse man bei Verstößen das Bürgergeld nicht komplett streichen, könnte aber dafür mit Sanktionen früher beginnen und sie länger laufen lassen als die jetzt geplanten drei Monate. Wenn jemand wieder kooperiere, könne man längere Beschränkungen jederzeit aufheben. „Das wäre der ausgewogenere Weg“, glaubt er.

Viele kleine Schritte bei Rückkehr in die Beschäftigung nötig

Eine gute Maßnahme seien aus seiner Sicht zudem Eingliederungszuschüsse für Arbeitslose, die in der ersten Zeit im neuen Job nur verminderte Leistung bringen können und Betreuung benötigen. „Der Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit besteht aus unzähligen kleinen Schritten.“

Für Arbeitslose, die aus verschiedenen Gründen kaum vermittelbar seien, hält er einen sozialen Arbeitsmarkt, wie er bereits existiere, für sinnvoll. „Rund zwei Drittel der arbeitslosen Bürgergeldbezieher verfügen über keinen Schul- oder Berufsabschluss, manche haben aktuell keine realistische Chance auf einen regulären Arbeitsplatz“, beschreibt er. Wichtig sei aber, dass man den sozialen Arbeitsmarkt „hinreichend restriktiv handhabt“.

Deutlich mehr als 100.000 Stellen sollten es nicht sein, meint der Ökonom. „Denn wenn das ausufert, subventioniert der Staat am Ende alles Mögliche – und hält Leute in subventionierten Jobs, die vielleicht noch eine Entwicklungschance in Richtung regulären Arbeitsmarkt haben“, sagt er abschließend.

DGB sieht keine Trendwende für Langzeitarbeitslose

Als langzeitarbeitslos gilt, wer länger als zwölf Monate ohne Job ist. Derzeit zählen nach Aussage des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) rund 930.000 Menschen dazu. Das seien 46.000 mehr als vor einem Jahr. Die Arbeitsämter befürchteten in den nächsten Monaten eine weitere Zunahme, heißt es in der Januarausgabe (1/2024) der DGB-Publikation „Arbeitsmarkt aktuell“.

Eine Trendwende zum Positiven sei für die Langzeitarbeitslosen nicht in Sicht. Wenn die Politik über Veränderungen beim Bürgergeld diskutiere, müsse dabei auch eine Antwort auf das sich vergrößernde Problem der Langzeitarbeitslosigkeit gefunden werden.

Dazu sei insbesondere auch auf die Unterfinanzierung der Jobcenter zu reagieren, fordert der DGB. Sie müssten eine „auskömmliche Finanzausstattung“ für die Unterstützung und Eingliederung von Langzeitarbeitslosen erhalten.

Jobcenter und Arbeitsagenturen könnten Betroffene mit unterschiedlichen Maßnahmen bei der Rückkehr in den Arbeitsmarkt unterstützen und begleiten. Allerdings sei die Teilnehmerzahl an solchen Maßnahmen zur Arbeitsförderung in den vergangenen Jahren „insgesamt deutlich rückläufig gewesen“.

„[…] Trotz des ab diesem Zeitpunkt erkennbaren Anstiegs der Langzeitarbeitslosigkeit“ habe es seit dem vergangenen Jahr weniger Teilnehmer gegeben.

Wenige Langzeitarbeitslose bei Fördermaßnahmen

Die aktive Arbeitsförderung für Langzeitarbeitslose führe bei den Agenturen für Arbeit „ein Schattendasein“. So betreuten die Agenturen laut DGB im August 2022 knapp 104.000 Menschen, die länger als ein Jahr ohne Job waren.

Eine arbeitsmarktpolitische Förderung erhielten ab August 2022 bis Juli 2023 insgesamt 361.000 Teilnehmer. Von denen waren jedoch nur 6.386 Männer und Frauen bei Eintritt in die Fördermaßnahme langzeitarbeitslos.

Derzeit sei es noch zu früh, um differenzierte Aussagen über die Auswirkungen des zum 1. Januar 2023 eingeführten Bürgergeldgesetzes auf die Förderung zu treffen. Die Neuerungen hätten vor allem die Erwartung nach einer Intensivierung von Fort- und Weiterbildung geweckt.

Förderung zur Berufswahl stark zurückgefahren

Der DGB weist zudem darauf hin, dass das „Fördergeschehen“ seit Anfang 2023 im Gesamten betrachtet rückläufig sei. So hätten im Vorjahresvergleich deutlich weniger Langzeitarbeitslose eine durch die Jobcenter geförderte Maßnahme der Arbeitsförderung angetreten. Diese sei über alle Fördermöglichkeiten hinweg rund 20 Prozent gesunken.

„Überdurchschnittlich stark zurückgefahren wurde die Förderung zur Berufswahl und Berufsausbildung bei jungen Menschen, Förderungen zur Aufnahme einer Beschäftigung und die im Zuge der Bürgergeldreform entfristete Förderung zur Teilhabe am Arbeitsmarkt“, merkte die Gewerkschaft an.

Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen seien ebenfalls rückläufig, wenn auch in einem geringeren Ausmaß. „Es wird sich in der Zukunft zeigen, ob die politisch gewollte Stärkung der Fort- und Weiterbildung unter den gegebenen Rahmenbedingungen zum Tragen kommt“, schreibt der DGB.

Es passt immer weniger zusammen

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt macht sich immer stärker ein Nichtzusammenpassen („Mismatch“) bemerkbar: Trotz einer konstanten Nachfrage nach Arbeitskräften fänden viele Arbeitslose keine Anstellung und junge Menschen keinen Ausbildungsplatz. Dies sei nach Ansicht des DGB eine wesentliche Ursache für vorhandene Arbeits- und Fachkräftelücken.

Er fordert daher „an erster Stelle die Aktivierung des inländischen Erwerbspotenzials, einschließlich der langzeitarbeitslosen Menschen“. Ziel müsse es zuvorderst daher sein, „Mismatch“ zu reduzieren. Daher müssten Betreuung und Förderung ausgebaut werden. Als „wichtig“ bezeichnet der DGB die Entscheidung, bei der Aufstellung des Bundeshaushaltes 2024 auf Kürzungen bei Verwaltungskosten und Eingliederungsleistungen zu verzichten. Dies sei im Etatentwurf des Kabinetts noch vorgesehen gewesen.

„Bei dieser Entscheidung muss es bis zum Abschluss der Haushaltsberatungen bleiben. Eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung, um das Personal in den Jobcentern zu entlasten und die neuen, mit dem Bürgergeld verbundenen Ziele einer besseren Betreuung und nachhaltiger wirkenden Förderung erreichen zu können, muss zudem noch geschaffen werden“, lautet eine weitere Forderung des DGB.



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