Lindner: „Politische Realitäten zwingen mich, mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren“

Bei einem Auftritt in der Schweiz hat sich Bundesfinanzminister Christian Lindner wenig begeistert über das „staatsgläubige“ Deutschland und über den Alltag in der Ampelkoalition geäußert. Trotzdem will er von einem Bündnisbruch nichts wissen. Die FDP-Basis aber schon.
Finanzminister Christian Lindner und Justizminister Marco Buschmann (beide FDP) fordern die Senkung von Leistungen für Asylbewerber.
Archivbild: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei einer Rede.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 14. November 2023

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) scheint sich in der Schweiz mittlerweile deutlich wohler zu fühlen als in Deutschland. Das geht aus einem Auftritt Lindners an der Universität Luzern vom 3. November hervor, der in Deutschland allerdings erst kürzlich bekannt geworden war.

Lindner war vom Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) eingeladen worden, um über die Frage „Ist Finanzpolitik heute noch Ordnungspolitik?“ zu reden. Doch schon bei der Begrüßung des Publikums im Hörsaal beschäftigte sich Lindner lieber mit dem Thema Freiheit. Er beschrieb seine Heimat Deutschland als „staatsgläubig“, die Schweiz dagegen würdigte er als „freisinnig“.

Lindner: „Politische Realitäten zwingen mich“

In einer Anspielung auf den Schweizer Freiheitskämpfer und Nationalhelden Wilhelm Tell betonte Lindner, dass er sich freue, zu Gast „in einer Gesellschaft zu sein, in der der Tell den Gesslerhut nicht gegrüßt hat“ (Video ab ca. 28:50 Min. auf „YouTube“). Lindner selbst, immerhin derzeit Herr über Hunderte deutsche Steuermilliarden, sieht sich aber offenbar noch nicht einmal mehr in der Lage, frei über seinen eigenen Karriereweg zu entscheiden:

Nachdem die politischen Realitäten mich zwingen, mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren, freue ich mich, die Luft der Freiheit zu atmen.“

Bundesfinanzminister Christian Lindner am 3. November 2023 bei seinem Gastauftritt in der Universität Luzern

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei seinem Gastauftritt am 3. November 2023 in der Universität Luzern. Foto: Bildschirmfoto/IWP

Dort in der Schweiz also die Luft der Freiheit – hier in Deutschland die Zwänge der Politik: Das klang nicht gerade so, als ob der liberale Lindner noch viel Freude an seiner Aufgabe verspüren würde. Und es klang auch nicht nach besonderer Sympathie für seine Koalitionspartner.

Eine Partei ohne Kraft

Für den Oldenburger Soziologieprofessor Marcel Schütz wählte Lindner als Vertreter der FDP keine empfehlenswerten Worte. Denn Lindner habe das Bild einer Partei gezeichnet, die „gegen ihre Interessen einer Regierung angehöre“, zugleich aber „keine Kraft habe, daraus Konsequenzen zu ziehen“, so Schütz nach Informationen der Zeitung „Der Westen“. Für Wähler entstehe schlicht der Eindruck einer schwachen Partei.

Unklar bleibt zudem die Frage, wer oder was Lindner „gezwungen“ haben könnte, weiter als Teil einer Regierungskoalition zusammen mit Roten und Grünen zu arbeiten. Denn es steht selbstverständlich auch dem Bundesfinanzminister frei, seine Arbeit jederzeit niederzulegen und um Entlassung zu bitten.

Lindner 2017: „Es ist besser, nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“

Dass er sich gar nicht auf einen Platz im Kabinett hätte einlassen müssen, hatte ausgerechnet Lindner höchstpersönlich anlässlich der Koalitionsgespräche nach der Bundestagswahl 2017 bewiesen. Damals hatte Lindner es aus freien Stücken abgelehnt, den Juniorpartner in einer schwarz-grün-gelben „Jamaika“-Regierung zu stellen.

Für seine enttäuschten Wähler, die Lindner vielleicht schon damals gerne in Regierungsverantwortung gesehen hätten, hatte der Chef der Liberalen seinerzeit einen simplen Trost parat: „Es ist besser, nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“ (Video auf „YouTube“). „Jamaika“ als Option war damit beerdigt, es ging in die nächste schwarz-rote GroKo – ohne Lindner, ohne liberale Beteiligung. Aber mit Angela Merkel (CDU) als Kanzlerin und Olaf Scholz (SPD) als Finanzminister.

FDP-Basis schon länger unzufrieden

Nach Einschätzung des Nachrichtenmagazins „Focus“ trugen auch Lindners Luzerner Äußerungen zumindest „zur wachsenden Unzufriedenheit innerhalb der FDP bei“. Schon vorher hatten sinkende Umfragewerte und das Aus für die Liberalen im Bayerischen Landtag immer mehr Mitglieder zu der Überzeugung gebracht: Entweder die FDP beendet die Ampel – oder die Ampel beendet die FDP.

So hatten Ende Oktober zunächst 26 FDP-Mitglieder in einem offenen „Weckruf“ an die Parteispitze verlangt, sich nach anderen Koalitionspartnern umzusehen: „Die FDP verbiegt sich in dieser Koalition bis zur Unkenntlichkeit“, hieß es darin, und man dürfe nicht länger „für eine quasireligiöse Ideologie arbeiten“.

Der Jurist Alexander-Georg Rackow, einer der Initiatoren des „Weckrufs“, glaubt nach einem Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) nicht an die Behauptung, dass die FDP sich noch schlechter stellen würde, wenn sie der Ampelkoalition ein Ende bereiten würde. Am besten fände er es sogar, wenn sich die FDP an die Spitze einer Bewegung pro Neuwahlen setzen würde.

Doch Parteichef Lindner will trotz allen Ärgers weiter an der Ampelkoalition im „staatsgläubigen Deutschland“ festhalten. Er selbst stehe zu den bisherigen Kompromissen und Entscheidungen der Koalition, sagte Lindner laut „ntv“. Und solange das möglich sei, werde er der Ampel weiter die Treue halten.

Kasseler FDP fordert: „Ampel beenden“

Auch im FDP-Kreisverband Kassel rumort es. Stadtkämmerer Matthias Nölke (FDP) stellte Anfang November eine Unterschriftenaktion mit dem Titel „Ampel beenden“ ins Netz. Wenn mindestens 500 Parteimitglieder den Aufruf schriftlich unterstützen, muss die Parteispitze laut Satzung die gewünschte Abstimmung aller gut 70.000 Parteibuchinhaber in die Wege leiten. Dass sie dem nicht im Wege stehen würde, hatte die FDP-Spitze nach Angaben der NZZ bereits erklärt: Es werde alles satzungsgemäß ablaufen.

Doch wie auch immer das Ergebnis der Befragung aussehen wird: Die FDP-Parteispitze wäre nicht gezwungen, sich an den Wunsch der Mehrheit zu halten. „Es wäre lediglich ein Appell an die Parteispitze – und nicht bindend“, heißt es in der „Frankfurter Rundschau“.



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