Lieber integrieren statt abschieben – auch ohne Bleiberecht

Statt abgelehnte Asylbewerber zeitnah abzuschieben, setzt die schwarz-grüne Regierung in Nordrhein-Westfalen vermehrt auf eine schnellere Unterbringung im Land: raus aus den Landeseinrichtungen, rein in die Städte und Gemeinden.
Titelbild
Symbolbild: Ein Abschiebeflugzeug in Richtung Heimat.Foto: Philipp von Ditfurth/dpa/dpa
Von 14. Juli 2023

Die schwarz-grüne Landesregierung Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat ihre Bemühungen weitgehend aufgegeben, ausreisepflichtige Asylantragsteller abzuschieben. Das berichtet die Zeitung „Welt“ in ihrer Ausgabe vom 13. Juli 2023.

„Gemeinsam mit seinem grünen Koalitionspartner betreibt Christdemokrat Wüst eine flüchtlingspolitische Wende. Die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber soll nicht mehr als Regelfall anvisiert werden“, heißt es da. Stattdessen wolle Schwarz-Grün dafür sorgen, sämtliche Asylbewerber aus den Landeseinrichtungen schneller in Dörfern und Städten unterzubringen, nämlich schon „nach spätestens sechs statt bisher 24 Monaten“. Das gelte auch für die bereits abgelehnten Antragsteller ohne Bleiberecht.

FDP NRW: „Wüst-Koalition gibt schulterzuckend auf“

„Von der Öffentlichkeit unbemerkt“ habe die Regierung Wüst „längst begonnen, den Aufenthalt in den Landeseinrichtungen zu verkürzen“, habe Marc Lürbke, der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion festgestellt. „Anstatt für höhere Rückführungszahlen zu kämpfen, gibt die Koalition unter Hendrik Wüst schulterzuckend auf“, zitiert ihn die „Welt“. „Immer früher“ würden die Geflüchteten „in die Kommunen geschickt“, obwohl das Flüchtlingsministerium unter Chefin Josefine Paul (Grüne) betone, dass die frühere 24-Monatsgrenze noch immer gelte.

„Quartalsberichte des Ministeriums“ aber zeigten laut Lürbke, dass sich Stand Ende März 2023 nur noch sieben Prozent der Asylantragsteller „länger als sechs Monate in den Landeseinrichtungen“ aufgehalten hätten. Im Herbst 2021 seien es noch mehr als 15 Prozent gewesen. Dabei habe sich laut „Welt“ die Dauer eines Asylverfahrens im Jahr 2022 durchschnittlich um einen Monat erhöht. Unterm Strich bedeute das höhere Belastungen für die Städte und Gemeinden, meint die „Welt“. Denn diesen obliege ja die Pflicht zur Integration der Neuankömmlinge.

Die Städte und Gemeinden in NRW haben seit Beginn des Ukraine-Krieges rund 230.000 geflüchtete Personen aus der Ukraine aufgenommen. Dazu kamen im Jahr 2022 rund 43.000 Asylbegehrende. Für das Jahr 2023 werden weitere rund 55.000 Asylbegehrende erwartet.“ („Münsteraner Erklärung“ des Städte- und Gemeindebunds vom 11. Mai 2023, PDF)

Rund 31.500 Landeseinrichtungsplätze – Kapazität fast erschöpft

Ein „Newsletter“ (PDF) vom 20. Juni 2023 des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration NRW zeigt, dass auch die Aufnahmekapazitäten der Landeseinrichtungen zur Neige gehen: Das Land konnte zu diesem Zeitpunkt 6.590 Plätze in seinen für wenige Tage ausgelegten Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) nutzen, außerdem gab es 22.970 Plätze in den insgesamt 28 „Zentralen Unterbringungseinrichtungen“, sogenannten „ZUE“. Dazu bestehe eine Reserve von weiteren knapp 2.000 „mietvertraglich gesicherten Kapazitäten“. Insgesamt lag die Zahl der Landeseinrichtungen bei 31.485 Plätzen.

Die Auslastung in den EAE lag bereits am 20. Juni bei 97 Prozent, Tendenz steigend. Die ZUE waren zu 81 Prozent besetzt gewesen, Tendenz sinkend. Auch Letzteres spricht dafür, dass das Land die Asylbewerber immer schneller auf die Kommunen verteilt.

Abschiebungen finden dagegen kaum statt: Nach Angaben der NRW-Grünen und des „Flüchtlingsrats NRW e.V.“ würden 95 Prozent der Ausreisepflichtigen nicht abgeschoben, lediglich fünf Prozent – immer noch mehr als im Rest der Republik – würden zurück in ihre Heimat gebracht. Laut „Welt“ ist das für Flüchtlingsrat und Grüne ein Grund mehr, diese Menschen schnell in den Kommunen unterzubringen statt in Sammelunterkünften.

Schließlich seien die ZUE „unwirtlich“, verzögerten die Integration und beherbergten das Risiko, „auf die schiefe Bahn“ abzugleiten, auch wegen der „fehlenden Privatsphäre und zu vielen, teils traumatisierten Menschen auf engem Raum“. Das „Konflikt- und Aggressionspotenzial“ in den ZUE sei „beträchtlich“, habe der Flüchtlingsrat eingeräumt.

„Schnelle dezentrale Unterbringung“ im Koalitionsvertrag

Grundlage für den Kurs der Regierung Hendrik Wüst ist der Koalitionsvertrag vom 23. Juni 2022 („Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen“, Seite 118 ff., PDF).

„Wir wollen eine schnelle dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in den Kommunen. Familien mit Kindern und vulnerable Personengruppen wollen wir nach drei Monaten, alle anderen Personengruppen möglichst nach sechs Monaten in die Kommunen zuweisen, um somit den Zugang zu speziellen bedarfsorientierten Betreuungsangeboten zu schaffen“, heißt es da auf Seite 121. Schwarz-grün ist trotz aller Probleme überzeugt: „Sozial, kulturell und nicht zuletzt wirtschaftlich profitiert Nordrhein-Westfalen von Einwanderung“ (Koalitionsvertrag, Seite 118).

Wüsts Kehrtwende

Als Wüst in den Jahren 2006 bis 2010 noch Generalsekretär der NRW-CDU war und auch in den Jahren danach, hatte er laut einem Kommentar der „Welt“ noch eine andere Flüchtlingspolitik verfolgt. Damals „konnte er gar nicht genug vor kriminellen Ausländern warnen, für kraftvolleren Grenzschutz werben und mehr Effizienz beim Abschieben einfordern“, konstatierte das Blatt am 6. Juli.

Nun, seit dem 27. Oktober 2021 in der Verantwortung des Landesvaters, gehe es für Wüst vor allem darum, „ein weiteres Erstarken der AfD zu verhindern“ – allerdings ohne vermehrt abzuschieben.

Amtsvorgänger Laschet: Integrationsbedarf nur bei „Anerkannten“

Wüsts Amtsvorgänger Armin Laschet (CDU) hatte laut „Welt“ noch versucht, die Verteilung der Bewerber auf die Kommunen so lange wie möglich hinauszuzögern, um die Integrationsleistungsfähigkeit in den Ortschaften nicht überzustrapazieren. Nach Laschets Ansatz sollten ausschließlich „anerkannte Asylbewerber“ eine Chance auf Integration haben.

Bereits abgelehnte Antragsteller oder Menschen, die „kaum Anerkennungschancen“ besäßen, sollten nach Laschets Vorstellungen bis zu ihrer Abschiebung in den ZUE des Landes verbleiben – „fernab von Stadt und Dorf, von Bus und Bahn“, wie die „Welt“ erläutert.

Städte- und Gemeindebund fordert Kurswechsel

Nun also strömen die Asylbewerber – ob anerkannt oder nicht – offensichtlich wieder vermehrt in Stadt und Dorf. Und das schmeckt den Lokalpolitikern vor Ort schon lange nicht mehr, wie aus der „Münsteraner Erklärung“ des Städte- und Gemeindebunds NRW vom 11. Mai 2023 hervorgeht:

Es fehlen ausreichende Unterkünfte und Wohnraum; Kitas und Schulen sind überlastet und freie Plätze in Sprach‐ und Integrationskursen kaum verfügbar. Dass die kommunalen Belastungsgrenzen erreicht sind, ist leider keine Ausnahme mehr, sondern der Regelfall.“

Der Städte- und Gemeindebund NRW sieht „eine ernsthafte Gefährdung des sozialen Friedens“. Er fordert, dass der „weitgehend unregulierte Zugang von Personen ohne wirksamen Aufenthaltstitel […] unverzüglich beendet werden“ müsse. Der Deutsche Bundestag solle die „für die Einwanderung geltenden Regeln“ festlegen, und zwar „äußerst zeitnah“.

Es bedürfe nicht nur eines „Masterplan[s] für eine bessere und gerechtere Verteilung von Ankommenden in der EU“ im Einklang mit „einer einheitlichen europäischen Migrationspolitik“, sondern auch einer „deutlich intensiver[en]“ Kontrolle der EU-Außengrenzen, „um illegale Migration effektiv zu unterbinden“. Zudem verlangt der Städte- und Gemeindebund eine Erweiterung der „Aufnahmekapazitäten auf Seiten von Bund und Land“: Allein für NRW müssten „40.000 weiterer Unterbringungsplätze“ her.

Gegen das „ewige Bleiberecht“

„Personen ohne wirksamen Aufenthaltstitel“ müssten „konsequent in die Herkunftsländer zurückgeführt werden“, denn „kein Parlament“ habe je einem „ewigen Bleiberecht“ zugestimmt, meint der Städte- und Gemeindebund. Genau das stehe aber „de facto“ in Rede. Es bedürfe „mehr Wohnraum, mehr Kita- und Schul-Plätze[n], mehr Integration“ und mehr Personal, dafür weniger Bürokratie und weniger „überbordender und zum Teil überflüssiger Standards“.

Nicht zuletzt erwarteten die Städte und Gemeinden, dass die „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ der „Unterbringung, Versorgung und Integration ankommender Personen […] dauerhaft und vollständig durch Bund und Land finanziert“ werde. Die Kommunen bräuchten „die erneute Zahlung einer Integrationspauschale nach dem Vorbild der Handhabung bis zum Jahr 2018“.

NRW-AfD will weiteren Zustrom „so weit wie möglich“ einschränken

Die flüchtlingspolitische Sprecherin Enxhi Seli-Zacharias, gebürtige Albanerin und studierte Politologin, fordert nach Angaben der „Welt“, dass „der weitere Zustrom nach Deutschland so weit wie möglich eingeschränkt“ werden müsse. Dafür sei „primär“ der Bund zuständig. Nicht erst seit Wüst, sondern schon unter Laschet sei das Abschiebesystem in NRW „gescheitert“.

Bei aller Kritik an der Asylpolitik Deutschlands und Nordrhein-Westfalens will der Städte- und Gemeindebund NRW von einer „gezielte[n] Zuwanderung qualifizierter Menschen“ aber nicht Abschied nehmen – des „Fach- und Arbeitskräftemangels“ wegen. „Das Ziel der Bundesregierung, ein Gesetz zur Verbesserung der Fachkräfteeinwanderung zu erlassen, ist daher ausdrücklich zu unterstützen“, heißt es in der „Münsteraner Erklärung“ vom Mai 2023.

Der Weg von der Erstaufnahmeeinrichtung in die Kommune

Erste Anlaufstelle für jeden Asylbewerber in Nordrhein-Westfalen ist nach Informationen der Bezirksregierung Arnsberg stets die zentrale Landeserstaufnahmeeinrichtung in Bochum (LEA). Dort finde in wenigen Stunden die Registrierung und Erstberatung des Bleibewilligen statt.

Im Anschluss würden die Eingereisten zunächst in eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) gebracht, wo der Gesundheitszustand festgestellt und der Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlingen (BAMF) gestellt werden könne. Nach rund einer Woche in einer EAE gehe es weiter in eine „Zentrale Unterbringungseinrichtung“ (ZUE). Dann heiße es warten … Bis zur Zuteilung eines Wohnsitzes in einer Kommune (PDF).



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