Kürzung Landesliste AfD Sachsen: Komplette Rede von Jörg Urban zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freunde der Demokratie,
in den drei Jahrzehnten seit der Neubegründung des Freistaates Sachsen haben die Regierungen den Bürgern leider schon einiges an Skandalen zugemutet.
Am widerwärtigsten davon war wohl der Sachsensumpf, dessen Aufklärung durch einen Untersuchungsausschuss regierungsseitig nicht gerade gefördert wurde.
Heute, im Herbst 2019, stehen wir wieder einmal vor einer Reihe kriminalistischer Rätsel – und diesmal wird der Untersuchungsausschuss hartnäckiger werden:
– Ein Mann in der Blüte seines Lebens gibt vor dem Super-Wahljahr 2019 plötzlich seine Position als Präsident des Statistischen Landesamtes und sein Nebenamt als Landeswahlleiter auf, um seiner Frau in deren Kaffeerösterei auszuhelfen.
– Eine etwa gleichaltrige Frau wird neue Präsidentin des Statistischen Landesamtes.
– Diese Frau ist langjähriges CDU-Mitglied.
– Sie war in Staatskanzlei und Innenministerium tätig.
– Obwohl alle Qualifikationen und vorherigen Verwendungen passen, wird sie aber – erstmalig in der Geschichte des Statistischen Landesamtes – nicht nach § 8 des Sächsischen Beamtengesetzes mit Probezeit ernannt, sondern nur abgeordnet für ein Jahr, nämlich das Super-Wahljahr 2019.
– Auch im Nebenamt als Landeswahlleiterin wird sie, was der Innenminister bereits eingestanden hat, rechtswidrig nur auf ein Jahr ernannt. Dabei steht es schon im ersten Satz der Landeswahlordnung, in § 1 Absatz 1, dass das unzulässig ist!
– Diese Frau mit erheblicher Erfahrung als stellvertretende Landeswahlleiterin und Kreiswahlleiterin von Bautzen macht plötzlich Fehler, die von unserem Verfassungsgerichtshof in ihrer Unrechtsqualität mit Willkür und Missbrauch gleichgesetzt werden!!!
– Auf eine parlamentarische Anfrage rückt der Innenminister nachträglich mit der Information heraus, dass der zuständige Referatsleiter des Innenministeriums, Experte für Verfassungsrecht und parlamentarische Wahlen, verzweifelt versucht hatte, die Landeswahlleiterin von ihrem Fehler abzubringen.
– Der Innenstaatssekretär sichert der Landeswahlleiterin in den Tagen vor der Entscheidung vom 5. Juli Schutz für ihre Person zu, angeblich ohne mit ihr über den Inhalt der Entscheidung zu sprechen.
– Am 5. Juli selbst wird von den Vertretern der anderen Parteien im Landeswahlausschuss in einer Verhandlungspause zur Landesliste der AfD wild mobil telefoniert. Während die Vertreter der Partei in Kamenz noch versuchen, die Landeswahlleiterin von der unrechtmäßigen Listenkürzung abzubringen, ist der Ausgang einer Streichung ab Platz 19 bereits die Tagesnachricht auf den Fluren der Ministerien.
Eine Ansammlung von Merkwürdigkeiten und in ihrer Mitte ein rauchender Colt: Die qualifiziert rechtswidrige Entscheidung des Landeswahlausschusses zur Streichung des größten Teils der Landesliste.
Deswegen, meine Damen und Herren, sind wir heute zusammen gekommen. Deswegen ist eine Untersuchung dringend nötig – und zwar schnell. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen und aus dem Staatsdienst entfernt werden, bevor sie weiteres Unheil anrichten können. Wenn sich hier nur ein Teil dessen erweisen lässt, was wir heute vermuten müssen, war die Barschel-Affäre im Vergleich ein laues Lüftchen. Nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland ist in einer solchen Dimension und in einer derart offensichtlich rechtswidrigen Weise die Demokratie angegriffen worden.
Dieser Untersuchungsausschuss wird das mit strafprozessualen und kriminalistischen Methoden aufklären und wir werden nicht locker lassen, bis wir die ganze Wahrheit kennen, selbst wenn wir Hunderte von Zeugen vernehmen müssen.
Der Kriminalist stellt immer zuerst die Frage: Cui bono – wem nutzt es? Wem hätte es genutzt, wenn die AfD mit nur 18 Abgeordneten in den Landtag eingezogen wäre und der Landtag nur 100 statt der gesetzlichen 120 Abgeordneten gehabt hätte?
Nun, meine Damen und Herren von der CDU, von den Grünen und LINKEN, von der SPD – Ihnen allen hätte es genutzt. Und Ihre Vertreter im Landeswahlausschuss haben ja auch die Hand gehoben, und dafür gestimmt, qualifiziertes Unrecht gegen die Demokratie und die Bürger dieses Landes zu verüben!
Sie, Herr Ministerpräsident Kretschmer und Sie, Herr Innenminister Wöller ….
Sie wurden von uns im Namen der sächsischen Wählerinnen und Wähler aufgefordert, ihre Pflicht, Recht und Gesetz zu wahren, wahrzunehmen – das geschehene Unrecht zu beseitigen und diese Landeswahlleiterin zu entlassen. Damit hätten sie den Wählern Sachsens zeigen können, dass Sie nicht in diese Sache verstrickt sind, dass Sie auf der Seite des Rechts stehen. Aber was haben Sie tatsächlich für die Wahlfreiheit der sächsischen Wähler, was haben Sie für Recht und Gerechtigkeit getan? Nichts. Absolute Fehlanzeige auf ganzer Linie. Es wäre Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen. Sie haben versagt vor der Verfassung und es versäumt, Schaden vom Volke abzuwenden.
Wollen Sie, Herr Ministerpräsident Kretschmer, wollen Sie, Herr Innenminister Wöller, in diesem Hause noch einmal die Hand erheben und die verfassungsmäßige Eidesformel leisten,
„dass ich meine Kraft dem Wohl des Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, Verfassung und Recht wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber allen üben werde.“
Wo waren Sie, Herr Kretschmer, als Verfassung und Recht verteidigt werden mussten? Wo waren Sie, als Schaden vom Volk abzuwenden war? War der Ausschluss der AfD-Wähler aus dem demokratischen Prozess Ihrer Meinung nach „Gerechtigkeit gegenüber allen“?
Und Sie, Herr Wöller, wo waren Sie, als Ihre Landeswahlleiterin im Verfassungsprozess in Leipzig ihre eigene Entscheidung nicht mehr erklären konnte? Wo waren Sie, als Frau Schreck unter der Befragung durch das Gericht zusammenbrach?
Wenn Sie, Herr Ministerpräsident und Sie, Herr Innenminister, sich anschicken würden, in diesem Hause noch einmal den feierlichen Amtseid zu leisten, den ich zitiert habe, würden in ganz Sachsen die Hühner lachen! Sie sollten die Konsequenz ziehen und Ihre Ämter Menschen überlassen, die einen Eid, den sie vor dem Volk auf die Verfassung leisten, ein klein wenig ernster nehmen als Sie, Herr Kretschmer und Sie, Herr Professor Wöller!
Selbst wenn alle Vernehmungen in diesem Untersuchungsausschuss zu nichts weiterem führen würden als zu dem, was wir heute schon wissen: Sie haben Ihre Amtspflichten schon durch Ihr unbestreitbares Nichtstun in einer Art und Weise verletzt, die Sie schwer belastet. Personen, über denen ein derart schwerwiegender Verdacht hängt, in hohen Regierungsämtern zu haben, schadet unserem Freistaat Sachsen. Tun Sie das einzig Richtige für Sachsen, treten Sie unverzüglich zurück und stellen Sie sich dem Gericht als einfache Bürger.
Die Erste Vizepräsidentin dieses Hauses, Frau Dombois, hat in Ihrer Stellungnahme für den Verfassungsprozess mit Engelszungen dargelegt, weshalb das Gericht keine Entscheidung in der Sache treffen darf. Zur inhaltlichen Seite hat sie kein Wort verloren.
Der Herr Präsident hat dann am Tage nach dem Sensationsurteil gesagt: „Die Demokratie in Sachsen funktioniert und die Chancengleichheit politischer Parteien wird gewahrt.“
Ja, Herr Präsident, wir konnten viel retten. Weil wir so verwegen waren, in Leipzig eine Entscheidung zu begehren, die es nach dem geschriebenen Gesetz überhaupt nicht hätte geben dürfen. Weil die Leipziger Richter so weise waren, verfassungsunmittelbaren Rechtsschutz zu gewähren – erstmals in Deutschland in einer Wahlsache.
Dass der Verfassungsgerichtshof dies tun musste, ist aber keinesfalls ein Beleg für das Funktionieren der Demokratie in Sachsen. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Beleg für das Funktionieren der Verfassungsgerichtsbarkeit und zugleich auch dafür, wie schreiend rechtswidrig andere Institutionen in diesem Land im hellen Licht des Tages ihren Angriff gegen die Demokratie geführt haben.
Dieser Angriff gegen die Demokratie wird heute deutlich auch darin, dass dieses Haus hier nicht in seiner gesetzlichen Zusammensetzung sitzt. Er wird erst beendet sein, wenn die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und von jedem Zugang zu den Machtmitteln des Staates abgeschnitten sind. (nmc)
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