Krankheitswelle belastet Betriebe – Experten streiten über Ursachen
Die Techniker Krankenkasse (TK) vermeldet für das erste Dreivierteljahr 2024 einen neuen Rekord bei Krankschreibungen. Von ihren 5,7 Millionen erwerbstätigen Versicherten sei im letzten Dreivierteljahr jeder Erwerbstätige im Durchschnitt 14,3 Tage krankgeschrieben gewesen, teilte die Krankenkasse der „Welt am Sonntag“ mit.
Rekordkrankschreibungen 2024
Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es durchschnittlich 13,82 Tage. Vor der Corona-Pandemie lagen die Fehlzeiten deutlich niedriger, 2019 beispielsweise bei 11,40 Tagen. Die Hauptursache für den hohen Anstieg sind laut TK Erkältungsdiagnosen wie zum Beispiel Grippe, Bronchitis, aber auch Corona-Infektionen.
In den ersten neun Monaten dieses Jahres war jede TK-versicherte Erwerbsperson demnach 3,24 Tage mit einer Erkältungsdiagnose krankgeschrieben. Damit haben sich diese zum Vergleichszeitraum im Jahr 2019 fast verdoppelt. Damals lag der Wert bei 1,71 Fehltagen je Erwerbstätigen.
Das zweitgrößte Volumen bei Arbeitsunfähigkeitstagen bilden laut TK die psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen oder Angststörungen. „Hier beobachten wir seit Jahren einen kontinuierlichen Anstieg“, hieß es. Die Fehlzeiten bei den Erwerbstätigen mit einer psychischen Diagnose im ersten Dreivierteljahr 2024 beliefen sich auf durchschnittlich 2,80 Fehltage (Vergleichszeitraum 2019: 2,13).
An dritter Stelle stehen die Krankheiten des Muskelskelettsystems wie Rückenschmerzen. Diese halten sich seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau. 2024 war jede TK-versicherte Erwerbsperson von Januar bis einschließlich September im Schnitt 2,05 Tage mit dieser Diagnose krankgeschrieben, 2019 waren es 2,00 Fehltage.
Ohne hohen Krankenstand ginge es der Wirtschaft besser
Die von der „Techniker Krankenkasse“ vorgelegten Zahlen sind keine Ausnahme. Wie das „Handelsblatt“ gerade schreibt, waren die Beschäftigten des weltweit agierenden Versicherungsunternehmens Allianz im vergangenen Jahr weltweit durchschnittlich 7,8 Tage krank.
In Zentraleuropa, wozu auch Deutschland gehört, lag der Durchschnitt mit 12,3 Tagen fast 60 Prozent höher. In Deutschland, so schreibt das „Handelsblatt“, sei der Wert noch höher. Konkrete Zahlen wollte der Versicherer allerdings nicht nennen. Vor einigen Wochen hatte Allianz-Vorstandschef Oliver Bäte in einem Gastkommentar für das „Handelsblatt“ geschrieben:
Ohne den enorm hohen Krankenstand wäre die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr nicht um 0,3 Prozent geschrumpft, sondern um knapp 0,5 Prozent gewachsen.“
Bäte beruft sich dabei auf Zahlen, die der „Verband forschender Arzneimittelhersteller“ (VfA) Anfang des Jahres errechnet hatte.
Wenn man über den Fachkräftemangel als Wachstumsbremse spreche, dann gehe die Debatte am eigentlichen Problem vorbei. „Denn streng genommen hat Deutschland keinen Mangel an Fachkräften. Vielmehr haben wir einen Mangel an Fachkräften, die genug arbeiten können und vor allem motiviert sind, mehr zu arbeiten“, so der Allianz-Chef.
Und Bäte fordert in seinem Gastbeitrag weiter: „Wir müssen nun dringend wieder ein Verständnis dafür herstellen, dass unser Wohlstand auch etwas mit dem Willen zu tun hat, sich für den Erhalt dieses Wohlstands anzustrengen.“
Ähnlich besorgt über die hohen Krankenstände in seinem Konzern hatte sich vor einigen Tagen auch Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius gegenüber dem „Spiegel“ geäußert. Die Anzahl der Krankentage deutscher Arbeitnehmer sei ein Nachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland. „Der hohe Krankenstand in Deutschland ist ein Problem für die Unternehmen“, sagt der schwedisch-deutsche Automanager. Über sein eigenes Unternehmen sagte Källenius damals: „Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen.“
Krankenstand seit 2021 sprunghaft angestiegen
Um die Krankenstände richtig einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf die durchschnittlichen Krankheitstage. Im Jahr 2007 erreichten die Krankenstände den bisherigen Tiefstwert seit der Wiedervereinigung: Die Deutschen waren damals im Durchschnitt 8,1 Tage im Jahr krankgeschrieben. Diese Zahl kletterte bis zum Jahr 2021 auf 11,1 Tage und stieg danach sprunghaft an. 2023 waren Arbeitnehmer in Deutschland durchschnittlich 15,1 Arbeitstage im Jahr krankgemeldet. Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus Wiesbaden.
Die Sorge vor dem hohen Krankenstand umtreibt die Krankenkassen. Der Vorstandschef der drittgrößten deutschen Krankenkasse DAK, Andreas Storm, forderte gegenüber der Nachrichtenplattform „t-online“ von der Politik, dass die hohen Krankenstände zur „Chefsache“ gemacht werden:
Die hohen Fehlzeiten sind eine enorme Belastung für die Beschäftigten und die Betriebe. Deshalb sollten die zuständigen Minister für Arbeit und Gesundheit, Hubertus Heil und Karl Lauterbach, eine gründliche und seriöse Debatte über die Ursachen anstoßen.“
Und der Krankenkassen-Chef weiter: „Es braucht eine Art ,Krankenstands-Gipfel‘, bei dem Vertreter der Krankenkassen, Ärzte, Wissenschaftler sowie Fachpolitiker zusammenkommen, um über die wahren Gründe des hohen Krankenstands und mögliche Rezepte für eine bessere Gesundheit zu sprechen.“
Worin die Ursachen für den hohen Krankenstand in Deutschland liegen, da gehen die Meinungen allerdings auseinander.
Telefonische Krankschreibung leichtfertig genutzt?
Der gesundheitspolitische Sprecher der Union im Bundestag, Tino Sorge, äußert gegenüber „t-online“ eine Vermutung für den hohen Krankenstand: „Ein Faktor dürfte auch sein, dass die telefonische Krankmeldung aus der Corona-Zeit in einigen Fällen zu leichtfertig genutzt wird. Befragungen deuten darauf hin, also muss darüber auch unaufgeregt gesprochen werden.“
Ursprünglich wurde die Möglichkeit einer telefonischen Krankenschreibung während der Corona-Pandemie als Sonderregelung eingeführt, um Arztpraxen und Patienten zu entlasten. Diese Möglichkeit wurde mehrmals verlängert und zwischenzeitlich abgeschafft. Seit Dezember 2023 hatte die Ampelregierung diese Möglichkeit allerdings wieder eingeführt.
Mit Folgen: Der Innungsverband der Gebäudereiniger teilt in einer Umfrage mit, dass eine Umfrage unter seinen Mitgliedern ergeben habe, dass seit Wiedereinführung der Möglichkeit, sich telefonisch krankschreiben zu lassen, der Krankenstand in den Betrieben sprunghaft gestiegen sei.
Warnung vor „Blaumacherdebatte“
Ist der hohe Krankenstand wirklich darauf zurückzuführen, dass Arbeitnehmer sich zu leicht krankmelden können? Der Ökonom Jochen Pimpertz, Leiter des Clusters Staat, Steuern und Soziale Sicherung beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), widerspricht und warnt vor einer „Blaumacherdebatte“. Gegenüber „t-online“ erklärt er, dass Erkältungswellen, teils als Nachwirkung der Corona-Pandemie, sowie altersbedingte Erkrankungen die eigentlichen Ursachen seien.
Eine weitere Ursache sieht Pimpertz in einer statistischen Änderung: Durch die elektronische Übermittlung der Krankschreibungen seit 2023 gehen keine Krankmeldungen mehr verloren, was die Statistik beeinflusst. Auch DAK-Chef Storm betont, dass früher viele Krankmeldungen nicht bei den Kassen ankamen und warnt davor, kranke Menschen zu verurteilen.
Allerdings veröffentlichte die „Pronovabkk“ Anfang des Jahres die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter Arbeitnehmern zur sogenannten „Bettkantenentscheidung“. Demnach gab ein Drittel der Befragten an, sich häufig oder manchmal krankzumelden, obwohl sie eigentlich arbeiten könnten.
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