Kipppunkt erreicht, System reißt – Ärzteverband fordert neue Gebührenordnung zur Patientenversorgung
Für viele Ärzte und Apotheker ist Gesundheitsminister Karl Lauterbachs Gesundheitspolitik ein „rotes Tuch“.
So auch für die IG Med, einem kleinen, unabhängigen Interessenverband für Heilberufe – also für Haus-, Fach- und Zahnärzte, aber auch Psychotherapeuten, Tierärzte und Apotheker. Mit seinen rund 900 Mitgliedern ist der Verband ein „kleiner Bruder“ neben den großen Ärzteverbänden wie Marburger Bund, Hartmannbund oder Virchowbund.
Unter der Fragestellung „Ist Karl Lauterbach die Abrissbirne des ‚besten Gesundheitswesens der Welt?‘“ wandte sich der Verein am 11. September im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin an die Öffentlichkeit und Medien.
Hier sehen Sie das Video der gesamten Pressekonferenz:
„Unser Eindruck ist, dass bewährte Strukturen in unserem Gesundheitssystem, also die Haus- und Facharztschiene und die Krankenhäuser […] momentan von Herrn Lauterbach sehr unter Stress stehen. Viele Gesetzesinitiativen, die er jetzt startet, die vielleicht gut gemeint sind, schaden letztendlich mehr, als dass sie helfen“, so der niedergelassene Allgemeinarzt und zweite Vorsitzende der IG Med, Dr. Steffen Grüner.
Gesundheitskioske und Gemeindeschwestern
Dazu zählt er die Idee der regionalen Gesundheitskioske und Gemeindeschwestern. „Das sind alles Sachen, die man versucht, mit viel Geld auf den Weg zu bringen, aber die letztendlich gar nichts bewirken.“
Das Konzept der Gesundheitskioske wurde im August 2022 von Lauterbach vorgestellt. Geplant war, ein Netz von deutschlandweit 1.000 Gesundheitskiosken aufzubauen, die in medizinisch unterversorgten Regionen und sozial benachteiligten Stadtteilen Gesundheitsberatung anbieten. Dabei könnten Gemeindeschwestern die Kioske führen. Das Projekt stieß auf Kritik, da unklar war, woher das Fachpersonal für die neuen Einrichtungen kommen soll, da es schon jetzt in den bestehenden Praxen und Kliniken einen Personalmangel gibt.
Die Vorsitzende des Verbandes, Dr. Ilka Enger, spricht gar von dem Erreichen eines Kipppunktes: „Herr Lauterbach hat 2007 immer von einem Kipppunkt gesprochen, an den das Gesundheitswesen kommen wird.“
Ich glaube, dass wir an diesem Kipppunkt inzwischen sind.“
Wer ein Dreivierteljahr auf einen Termin beim Facharzt warten müsse, wer keinen Hausarzt oder Kinderarzt mehr finde, wer im Krankenhaus mehrere Stunden in der Notaufnahme zubringen müsse, der wisse inzwischen, dass das System an der „Dehnungsfuge angekommen“ sei und dass es jetzt „langsam anfängt zu reißen“, so Dr. Enger.
IG Med: Bewährte Versorgungsstrukturen sollen erhalten bleiben
Die IG Med fordert, bewährte Strukturen der Grund- und Regelversorgung zu erhalten und nicht zu großen „Superzentren“ zusammenzuschmelzen.
Damit geht Dr. Grüner auf Lauterbachs Plan ein, neben Gesundheitskiosken auch Primärversorgungszentren einrichten zu lassen. Sie sollen die Gesundheitsversorgung in der Gemeinde, besonders von älteren und multimorbiden Patienten, stärken.
„Die Lage der niedergelassenen Ärzteschaft ist nicht gut“, berichtet Dr. Grüner weiter.
Die gültige ärztliche Gebührenordnung (GOÄ) von 1982 und 1996 sei nicht mehr dazu geeignet, Angebot und Nachfrage in einer Praxis optimal auszugestalten. Sie legt nach einem Ziffersystem fest, was die Ärzte von den privat Krankenversicherten in welcher Höhe abrechnen können.
„Jetzt könnte man sagen, die GOÄ betrifft nur 10 Prozent der Patienten, denn sie richtet sich vornehmlich an die privat Krankenversicherten.“ Doch die GOÄ für die privat Versicherten sei auch eine Quersubvention für die Behandlung der gesetzlich Versicherten, erklärt der Arzt aus Nordrhein-Westfalen.
„Ohne Privatpatienten kann eine Haus-, eine Facharztpraxis nicht überleben.“ Deswegen sei es ganz wichtig, dass die Gebührenordnung jetzt reformiert wird, dass sie flexibilisiert und dynamisiert werde.
Steigende Kosten bei stagnierender Vergütung
Wie die Neugestaltung aussehen könnte, führt der Gesundheitsökonom Prof. Günter Neubauer aus München aus. Er hat für den Interessenverband ein Gutachten erstellt, das konkrete Vorschläge zur Neugestaltung enthält.
„Das Problem von Lauterbach ist, dass er bei erstarrten ökonomischen Rahmenbedingungen gleichwohl dynamische Entwicklung einbringen will“, so der Ökonom. „Das passt nicht zusammen.“
Die GOÄ sei ein erstarrter Rahmen, so der Münchner. Man habe steigende Kosten bei stagnierender Vergütung.
Er sieht dadurch die Gefahr, dass es möglicherweise einen Kollaps auslöse, wenn immer mehr niedergelassene Ärzte aus dem GOÄ-System aussteigen.
IG-Med-Mitglieder berichteten davon, dass Ärzte vermehrt ihre Praxis oder gar ihren Beruf aufgeben, weil sie mit den jetzigen Rahmenbedingungen die notwendige Leistung zur Versorgung der Patienten nicht mehr erbringen und ihre Praxis wirtschaftlich finanzieren können.
Dazu komme noch die älter werdende Generation, erklärt Neubauer. Damit verbunden sind höhere Ausgaben und ein erhöhter Aufwand zur Betreuung der Patienten. Zudem fällt es niedergelassenen Ärzten auf dem Weg in den Ruhestand schwer, Nachfolger für ihre Praxis zu finden, wodurch sie teilweise ersatzlos wegfallen.
Er schlägt vor, von dem jetzigen Kostenerstattungssystem zu einem Leistungsvergütungssystem zu kommen.
Ökonom plädiert für „harmonisierten Gesundheitspreisindex“
Dazu soll die durchschnittliche Kostenentwicklung für Energie, Immobilien und Einzelaufwendungen und weitere Kosten- und Preisindexe berücksichtigt und daraus ein harmonisierter Gesundheitspreisindex gebildet werden, der einen Durchschnittswert für einen Fünfjahreszeitraum darstellt.
Von dem soll dann das Ziffernsystem der GOÄ für fünf Jahre abgeleitet werden.
Dieser Gesundheitspreisindex soll dann als Ausgangspunkt für die regelgebundenen Vergütungsverhandlungen zwischen der Bundesärztekammer und den privaten Krankenversicherungen sowie den niedergelassenen Ärzten dienen und kann durch Verhandlungen an besondere regionale oder individuelle Bedingungen des Arztes angepasst werden, so der Ökonom.
Man müsse weg von dem kollektiv Einheitlichen und müsse erlauben, dass einzelne Verhandlungspartner im Sinne der betroffenen Patienten zu unterschiedlichen Verhandlungsergebnissen kommen, sagt Neubauer.
„Innovation und Dynamik im System geschieht nicht dadurch, dass alles gleich gemacht wird, sondern Innovation in diesem System lebt davon, dass Einzelne etwas anders machen, es ausprobieren und wenn es erfolgreich ist, hat es Nachahmer.“
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