„Keine Olympischen Spiele in Peking 2022“
Ein Gewirr an Menschen umgibt das Brandenburger Tor, das an diesem Sonntag in der hellen Mittagssonne zwischen den herbstlich bunt gefärbten Blättern feierlich erstrahlt. Etliche Touristen nutzen das schöne Wetter, um sich unter blauem Himmel vor dem bekanntesten Wahrzeichen der Hauptstadt fotografieren zu lassen. Dazwischen Christen, die singend mit Fahnen auf ihre Botschaft aufmerksam machen: „Jesus lebt!“
Nach einer Weile des Suchens entdecke ich sie dann – 25 bis 30 Personen, die mit Tibet-Flaggen und den leuchtend hellblauen Flaggen der uigurischen Unabhängigkeitsbewegung in den Händen zusammenstehen. Im Vorfeld wurden 150 Teilnehmer für ihren Protest angemeldet, erfahre ich von der Berliner Polizei.
In der überschaubaren Gruppe entdecke ich auch einige Hongkonger Demokratie-Aktivisten. Sie schwenken ihre schwarze Hongkong-Flagge, die eine weiße Bauhinienblüte zeigt. Sie stellt augenscheinlich ein Pendant zur 1997 eingeführten offiziellen Flagge Pekings für die Sonderverwaltungszone Hongkong dar, die eine Bauhinienblüte auf rotem Grund zeigt und deren Blütenblätter jeweils einen KP-Stern tragen.
Politiker sollen die Olympischen Spiele in China boykottieren
Gemeinsam treffen sich die Angehörigen chinesischer Minderheiten und einzelne westliche Teilnehmer am Brandenburger Tor, um von hier aus eine Fahrraddemonstration gegen die Olympischen Winterspiele in Peking 2022 zu starten. Ihre Forderung: Die deutschen Politiker sollen die olympische Veranstaltung in China boykottieren. Sie findet im kommenden Jahr vom 4. bis zum 20. Februar statt.
Hier am Brandenburger Tor treffe ich als einer der wenigen Pressevertreter, die vor Ort sind, eine Frau mittleren Alters. Sie stammt aus Hongkong und lebt seit einigen Jahren in Berlin. Sie erklärt mir, man sei heute zusammengekommen – Hongkonger, Tibeter, Uiguren und andere Menschen –, weil die Olympischen Spiele in Peking einfach nicht stattfinden dürften. „Wir finden das nicht in Ordnung, dass in so einem Land, in dem in jeder Hinsicht Verstöße gegen die Menschenrechte jeden Tag passieren, die Olympischen Spiele stattfinden sollen.“
Wenn man die Olympischen Spiele in solch einem Land unterstütze, dann impliziere das auch, dass die Menschenrechtsverstöße dort weiter gehen dürften, so die Hongkongerin. „Wir sagen dazu ganz deutlich ‚Nein‘. Wir sagen, Menschenrechte sind wichtiger als die Olympischen Spiele!“
Ergänzend fügt sie hinzu, dass zum Beispiel in Ostturkestan ganz aktuell ein Genozid stattfinde. Und in Hongkong würden ganz selbstverständliche Freiheiten der Bevölkerung durch Peking und seine Hongkonger Regierung unterdrückt. „Die Menschen dort haben wirklich jeden Tag Angst. Und das geht einfach nicht, das sind ganz klare Verstöße gegen die Menschenrechte.“
„Die aktuelle Situation in China ist desaströs“
Nur wenige Meter entfernt treffe ich Tenzyn Zöchbauer, Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland. Die Frau mit tibetischen Wurzeln – in Österreich aufgewachsen – erklärt, man habe sich an der Demo beteiligt, weil die Olympischen Spiele 2022 erneut an die Volksrepublik China vergeben wurden. Aus der Erfahrung von 2008 wisse man, wie negativ sich solche Spiele auf Tibet und sein Volk auswirke. „Die aktuelle Situation in China ist desaströs. Die Menschenrechtslage ist schlechter als 2008. Und trotzdem hat das IOC sich dazu entschieden, diese Spiele dort auszutragen.“
Sie berichtet, dass in Tibet seit 2008 eine Situation wie in einem Hochsicherheitstrakt herrscht, in den weder Leute rein noch richtig rauskämen.
Damals, im Vorfeld der Olympischen Spiele, gab es in Tibet landesweit Proteste gegen Pekings Unterdrückung, die von historischem Ausmaß waren. Sie wurden brutal niedergeschlagen. Alle Welt konnte damals über die in die westliche Welt gelangten Aufnahmen sehen, wie brutal die chinesische Polizei gegen die Tibeter in Tibet vorging.
„Inzwischen sind wir und das Schicksal der Tibeter nahezu vergessen“, so Zöchbauer. „Und daran ist unter anderem auch das IOC schuld.“
Es habe sich viel verändert nach den Olympischen Spielen 2008 in Peking, aber nicht zum Positiven. Alle Versprechen, die das IOC als auch die chinesische Regierung damals gegeben hätten, seien gebrochen worden. „Es hat keine Aufarbeitung im Nachhinein stattgefunden und es gab keine Konsequenzen“, so Zöchbauer.
Appell an Sportler, die Teilnahme zu überdenken
Geht es nach Stefan Siebenrock von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), müssten alle aufrechten Bürger Deutschlands und auch anderer Länder auf die Straße gehen. „Wir sind natürlich gegen Genozid-Spiele. Man muss es leider so sagen, denn seit 2017 haben wir einen Genozid im Westen Chinas an den Uiguren und anderen muslimischen Minderheiten.“ Daher appelliere er an alle Staaten, Abstand zu nehmen. Auch den Sportlern rät er zu überdenken, ob es wirklich Sinn mache, daran teilzunehmen, auch wenn sie sehr viel opfern müssten, so Siebenrock.
Aber es stünde sehr viel auf dem Spiel und es sei nicht mal mehr vergleichbar mit 1936, sondern es sei schon wesentlich weiter, erklärt der Berliner Regionalleiter der GfbV. „Also wir müssen reagieren, alle, ob Sportler oder kein Sportler.“
Er wünscht sich darüber hinaus, „dass man mit einem Land, das einen Genozid durchführt, keine Geschäfte mehr machen dürfe, zumindest so lang der Genozid nicht gestoppt wird“. Zudem appelliere er an die Verbraucher in Deutschland, keine chinesischen Produkte wissentlich zu kaufen. Denn gerade bei Produkten aus chinesischer Baumwolle seien Uiguren, die Zwangsarbeit leisten müssten, involviert.
Und er führt weiter aus: In Westchina werde viel Baumwolle gepflanzt und auch verarbeitet. Dabei seien Uiguren eng in ein System mit chinesischen Firmen eingebunden. „Teilweise werden die chinesischen Firmen direkt neben diesen Konzentrationslagern mit Uiguren gebaut, sodass dann quasi am Ende kaum mehr jemand durchschauen kann, in welchem Produkt Zwangsarbeit drinnen steckt.“ Und die chinesische Seite versuche zudem, alles zu vertuschen. „Solange dieser Zustand herrscht, sollte man überhaupt keine chinesischen Produkte kaufen.“
Zwangssterilisation und orwellsche Überwachung
Zuletzt spreche ich mit Haiyuer Kuerban, Leiter des Berliner Büros des Weltkongresses der Uiguren. Von ihm will ich wissen, welche Belege es für die Existenz von Umerziehungslagern für die muslimischen Minderheiten in China gibt. Die chinesische Regierung spricht ja von Berufsbildungszentren und Sprachförderung.
Er berichtet, dass die chinesische Regierung jahrelang die Existenz solcher Umerziehungslager geleugnet hat. „Wenn diese Einrichtungen von Anfang an einem guten Zweck dienten, warum sollte die Regierung ihre Existenz verheimlichen?“ Bis zur Sitzung des Menschenrechtsrats 2018 in Genf habe die chinesische Regierung strikt dementiert, solche Einrichtungen in Xinjiang zu betreiben. Zuvor hatten Forscher aus verschiedenen Ländern mithilfe von Satellitenbildern die Existenz von Umerziehungslagern in dieser Region nachgewiesen.
Kuerban gibt zu bedenken, dass Peking massenhaft Uiguren, die sehr gut gebildet seien und die Elite der uigurischen Gesellschaft, der uigurischen Kultur, der uigurischen Sprache repräsentierten, dort eingesperrt habe. Dies habe massive Auswirkungen auf die traditionelle Kultur der Uiguren und ihre Sprache zur Folge gehabt.
Teilweise würden Kinder, von denen ein oder beide uigurischen Elternteile von den chinesischen Behörden inhaftiert wurden, in staatliche Obhut zwangsüberführt, wo sie der elterlichen Fürsorge ent- und stattdessen der Staatsdoktrin unterzogen würden. Dies geschieht unabhängig davon, ob es uigurische Verwandte gibt, die sich um das Kind kümmern könnten. Während Peking die Ein-Kind-Politik gelockert habe, seien massenweise Zwangssterilisationen unter den uigurischen Frauen durch die chinesischen Behörden durchgeführt worden.
Er spricht von einem offenen Gefängnis, das in China in der Heimat der Uiguren in den letzten Jahren errichtet worden sei, mit einem unfassbaren orwellschen Überwachungsapparat. Auch außerhalb der Umerziehungs- und Zwangsarbeits-Lagersysteme würden den Uiguren keinerlei Grundrechte gewährt, wie die Freiheit, seine Meinung zu äußern oder seine kulturelle Identität zu leben. Unabhängige Untersuchungskommissionen, die die Augenzeugenberichte und Hinweise bestätigen oder entkräften könnten, lasse Peking nicht ins Land herein.
Für ihn dürften die Olympischen Spiele in China nicht stattfinden, weil es Peking in seiner menschenverachtenden Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten bestärkt. Auch würde die chinesische Führung dies als ein Signal der westlichen Welt verstehen, dass sie Pekings repressiven Umgang mit den verschiedenen Volksgruppen für legitim hält.
Betreibt Peking nationalsozialistische Politik?
Jonas Schmidt aus Bremen gehört zu den wenigen Teilnehmern an der Protestveranstaltung, die augenscheinlich keiner der heute hier vertretenen ethnischen Minderheiten angehört. Mit seinem blonden Kurzhaarschnitt erzählt er auf dem Fahrrad sitzend, dass er im Umgang des chinesischen Regimes mit seiner Bevölkerung viele Parallelen zum deutschen Nationalsozialismus sehe. Das alarmiere ihn und daher sei er auch nach Berlin gekommen.
Dann setzt sich der kleine, bunt gemischte Tross mit seinen Fahrrädern, der Musik und den schwenkenden Fahnen in Bewegung. Vorne und hinten sichern Polizeifahrzeuge mit Blaulicht die Gruppe ab. Sie verhelfen der überschaubaren Teilnehmergruppe mit ihrem so großen Thema zumindest visuell kurzzeitig zu Aufmerksamkeit, bevor hinter ihnen der Verkehr wieder zu seinem üblichen Alltag zurückkehrt.
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