Kaum Obduktionen an Corona-Toten – obwohl Infektionsschutzgesetz sie billigt

In Mecklenburg-Vorpommern wurde nur an acht von 480 Corona-Toten eine Obduktion durchgeführt, auch in vielen anderen Bundesländern geschieht dies selten. Rechtsmediziner üben nun Kritik: Das Gesetz würde sie billigen, und die Wissenschaft hätte erheblichen Nutzen.
Von 6. Februar 2021

Das Sektionsrecht, das genauere Bestimmungen zur Anordnung und Durchführung von Obduktionen enthält, ist als Teil des Bestattungsrechts Kompetenz der Länder. In § 25 Infektionsschutzgesetz hat der Bund jedoch eine Grundlage geschaffen, aufgrund derer im Fall einer Pandemie die Hürden für die Anordnung einer amtlichen Leichenschau niedriger sind und die Gesundheitsämter der Landkreise über einen erheblichen Spielraum verfügen. Dieser wird jedoch in vielen Bundesländern nicht genutzt – was im Zusammenhang mit positiv auf Corona getesteten Verstorbenen nun für Kritik sorgt.

In Hamburg werden Obduktionen bereitwilliger durchgeführt

Wie der NDR berichtet, sind beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern bis dato lediglich in acht von 480 Todesfällen, die in einem Zusammenhang mit Corona stehen sollen, Obduktionen angeordnet worden. Dabei ist Rostock die einzige Stadt, in der das Gesundheitsamt von seiner Möglichkeit, eine Autopsie durchführen zu lassen, Gebrauch gemacht hat: Alle acht Fälle sind der Hansestadt zuzuordnen. In allen Fällen sei dies in Absprache mit den Angehörigen geschehen.

Es gibt auch Länder, in denen mit der Möglichkeit, positiv auf Corona getestete Verstorbene zu obduzieren, offensiver umgegangen wird – so beispielsweise in Hamburg. Insgesamt ist jedoch in den meisten deutschen Bundesländern ein eher zurückhaltender Umgang mit amtlichen Leichenschauen die Regel, und dies liegt nicht immer nur an Bedenken von Angehörigen.

Im Fall von Verstorbenen, deren Tod mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Pandemie in Zusammenhang steht, dürften Gesundheitsämter dem Gesetz nach sogar ohne deren Zustimmung eine Sektion anordnen.

Rechtsmediziner sprechen von „enttäuschender Quote“

Der Bundesverband der Deutschen Pathologen sieht in dem überschaubaren Aufwand, den Gesundheitsämter im Zusammenhang mit Obduktionen mutmaßlicher COVID-19-Todesopfer betreiben, eine vergebene Chance.

Der Direktor des Rostocker Instituts für Rechtsmedizin, Professor Andreas Büttner, spricht gegenüber dem NDR von einer „enttäuschenden Quote“ und davon, dass ausbleibende Obduktionen bei der Erforschung der Krankheit und einer möglichen Entwicklung angepasster Therapien hinderlich seien.

Für die fehlende Bereitschaft der Gesundheitsämter, Obduktionen anzuordnen, werden mehrere Gründe genannt. Einer davon könnte eine instinktive Zurückhaltung sein, die auf eine Warnung des Robert-Koch-Instituts (RKI) in der Anfangsphase der Corona-Pandemie zurückgeht.

RKI warnte vor Obduktionen – wegen der Aerosole

Damals hatte es eine explizite Empfehlung des RKI zum Umgang mit COVID-19-Toten gegeben, die lautete, amtliche Leichenschauen sollten vermieden oder auf ein Minimum beschränkt bleiben. Begründung: Die Öffnung von Leichen stelle eine „aerosolproduzierende Maßnahme“ dar, die das Infektionsrisiko erhöhe.

Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin wies diese Bedenken in einer eigenen Stellungnahme bereits damals zurück. Es sei in der Rechtsmedizin Standard, weitreichende Vorkehrungen gegen Schmier- und Tröpfcheninfektionen zu treffen. Gerichtsmediziner würden das Risiko durch das Tragen von Schutzkleidung und Masken sowie die Beachtung weiterer Schutzvorkehrungen minimieren, sodass auch im Zusammenhang mit COVID-19 kein Grund bestehe, „dass der Gesundheitsschutz die Rechtssicherheit überwiegen soll“. Die Warnung des RKI, Autopsien zu vermeiden, könne sogar dazu führen, dass Verbrechen unentdeckt blieben, hieß es schon im April 2020 vonseiten der Pathologen.

Schwerin: Keine Obduktion bei Zuordnung zu bekannten Corona-Clustern

Es werden auf Nachfrage des NDR vonseiten der Gesundheitsämter jedoch auch andere Begründungen als die Vermeidung von Infektionen genannt. Aus der Landeshauptstadt Schwerin heißt es, die Aufgabe der Gesundheitsämter sei es „vordergründig, Infektionswege zu ergründen und Infektionswege zu brechen“, wofür „Obduktionen nicht erforderlich“ seien. Im Kern lautet die Botschaft demnach: Das Gesundheitsamt hätte mehr Interesse an den Lebenden als an den Toten.

Darüber hinaus hält man in der Landeshauptstadt eine Obduktion immer dann für „entbehrlich“, wenn eine „klare Kausalität“ oder eine eindeutige Zurechenbarkeit zu bekannten Corona-Clustern gegeben sei. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn ein Corona-Ausbruch in einem Alten- oder Pflegeheim zu Todesfällen geführt habe.

In den meisten Fällen von Corona-Toten habe zudem ein erhöhtes Risiko infolge hohen Alters oder bestehender chronischer Vorerkrankungen bestanden. Diese Beobachtung sei nicht allein auf die Landeshauptstadt beschränkt, sondern in allen Landkreisen gemacht worden, in denen es besonders viele Todesfälle im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion gegeben habe. Andere Gesundheitsämter verweisen auch auf die Kosten, die mit jeder Obduktion verbunden wären, die eine kritische Erwägung erforderlich machten, ob ein solcher Eingriff tatsächlich erforderlich sei.

Rechtsmediziner: „Wichtig, genauer hinzuschauen“

Rechtsmediziner Büttner hält die Zurückhaltung dennoch nicht für angebracht. Gerade bei der zweiten Welle wäre es „wichtig gewesen, genauer hinzuschauen“. Auch die Leichenschau sei ein „Dienst an den Lebenden“, immerhin könnten Erkenntnisse über unterschiedliche Krankheitsverläufe bei Verstorbenen eine Anpassung von Therapien an lebenden Infizierten erleichtern. Bereits jetzt sei aufgrund von Autopsien deutlich geworden, dass Risikofaktoren wie Thrombosen oder Nierenversagen in vielen Fällen einen Einfluss darauf gehabt hätten, ob ein Corona-Patient aus einer Risikogruppe die Infektion überlebt habe oder nicht.

Derzeit seien einer Schätzung des Pathologenverbandes im gesamten bisherigen Verlauf der Corona-Pandemie in ganz Deutschland nicht einmal 1.000 Obduktionen an Verstorbenen durchgeführt worden, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren.

Johannes Friemann, Chef des Standortes für Pathologie am Klinikum Lüdenscheid am Pathologischen Institut der Universitätsklinik Köln, spricht von einem „Skandal“ und fordert eine Obduktionsquote von mindestens zehn Prozent bei mutmaßlichen Corona-Toten. Immerhin helfe jede Obduktion auch, zu klären, ob „Menschen mit oder durch die Infektion versterben“.

Kieler Pathologe: „Die meisten Infizierten sind tatsächlich an COVID-19 verstorben“

Bis dato zählt das RKI sowohl Menschen, die unmittelbar an den Folgen einer COVID-19-Infektion verstorben waren, als auch positiv Getestete mit Vorerkrankungen, bei denen nicht abschließend geklärt werden konnte, was die genaue Todesursache war, als Corona-Todesfälle.

Kritiker bemängeln, dass diese Vorgehensweise die Zahlen verfälsche und zu einer deutlich überhöhten Zahl an offiziellen Corona-Toten führen könnte. Christoph Röcken vom Institut für Pathologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) geht nicht davon aus, dass dies der Fall ist.

Gegenüber den „Oberösterreichischen Nachrichten“ erklärte er unter Bezugnahme auf eine Auswertung von Obduktionen an bisher 50 Verstorbenen zwischen 53 und 90 Jahren, die an seinem Institut stattgefunden hatten:

„Bei 85 Prozent der Fälle konnten wir wirklich bestätigen, dass sie an COVID-19 verstorben sind.“

Nur ein kleiner Teil sei mit statt an Covid-19 gestorben.

Röcken und sein Team obduzierten aktuell täglich zwei Verstorbene, bei denen eine Corona-Infektion nachgewiesen worden war. Im Rahmen einer deutschlandweiten Initiative von 34 Unikliniken würden derzeit entsprechende Daten aus dem gesamten Land in einem Obduktionsregister systematisch zusammengetragen. Zudem werden Gewebeproben von SARS-CoV-2-infizierten Verstorbenen aufbewahrt.



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