Jugendkriminalität: Die Diskrepanz zwischen Statistik und Realität

Nachdem die Jugendkriminalität seit Jahren sinkt, steigt sie seit einigen Monaten wieder. In Berlin soll das Thema angegangen werden – ein Gipfel zur Jugendkriminalität gibt erste Hoffnungen.
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Symbolbild.Foto: iStock/MachineHeadz
Von 12. Januar 2023

Nach den Krawallen in der Silvesternacht gibt es zum einen Stimmen, die ein Böller-Verbot aussprechen wollen. Andere glauben, dass das Problem tiefer sitzt und fordern, dass vermehrt gegen Kriminalität vorgegangen wird. Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner befürchtet zum Beispiel, dass es die Runde machen und in bestimmten Sub-Gruppen zum Trend werden könne, gegen Vertreter des Staates vorzugehen. Er spricht dabei vor allem von jungen Männern.

Statistiken zeigen Abnahme

Kriminalstatistiken zeigen ein anderes Bild als einen Trend zur vermehrten Jugendkriminalität: Seit Jahren ist ein Rückgang der Kriminalität zu erkennen.

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück verweist auf den Rückgang von Jugendkriminalität: „Wenn wir die Entwicklung von Jugendgewalt in den letzten 20 Jahren anschauen, so sehen wir, dass schwere Straftaten insgesamt abnehmen.“

Auch Sabrina Hoops, wissenschaftliche Referentin beim Jugendinstitut, spricht von einem allgemein falschen Eindruck: „Es entsteht schnell der Eindruck, dass junge Leute immer delinquenter werden. Ein sachlicher Blick auf Gewalt im Jugendalter zeigt aber eher das Gegenteil.“

Deutschlandweit gab es 2017 laut Bundeskriminalamt insgesamt 5.761.984 Straftaten. 2021 sank die Zahl der Straftaten um 714.000 (auf 5.047.860). Rund 65 Prozent der Tatverdächtigen sind Deutsche.

Auch im Bereich der Altersgruppe zwischen 8 und 21 Jahren gibt es einen Rückgang. Beispielsweise ging bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung die Zahl der Tatverdächtigen pro 100.000 Einwohner zurück. Laut Polizeistatistik gab es 2010 durchschnittlich 518 Tatverdächtige, 2020 waren es rund 302.

Eine Analyse des Deutschen Jugendinstituts in München zur Jugendgewalt aus August 2022 bestätigt den Rückgang der polizeilich registrierten jungen Tatverdächtigen.

Kein Glaube an staatliche Ordnung

Sinkende Kriminalzahlen bedeuten nicht automatisch, dass es keine Gewalt gebe. Laut Boris Pistorius (SPD), Minister für Inneres und Sport in Niedersachsen, sei ein „wahnsinnig schnell sinkender Respekt und Achtung vor den Einsatzkräften“ zu erkennen.

Der Soziologe El-Mafaalani bestätigt gegenüber „Bild“: „Polizisten, Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Mitarbeiter in den Jobcentern berichten von einer zunehmenden Respektlosigkeit.“

Politologen und Soziologen sehen als Grund eine Spaltung der Gesellschaft beziehungsweise, dass Tätern eine gemeinsame gesellschaftliche Vision fehle. Die Menschen haben nicht den Eindruck, „dass sie von einer staatlichen Ordnung profitieren“, so El-Mafaalani.

Kriminalität nimm zu

Kriminalstatistiken geben allerdings lediglich ein Bild bis 2021 ab. Die jüngsten Entwicklungen widersprechen den Statistiken: Mancherorts ist seit einigen Wochen ein Anstieg von Jugendkriminalität zu verzeichnen.

In Halle an der Saale beispielsweise begehen seit einem Jahr sogenannte Jugendbanden Straftaten. Laut Polizeisprecher Michael Ripke gebe es eine eigene Ermittlungsgruppe. 2022 hatte sie bereits 368 Verfahren, darunter Raub, Körperverletzung, Bedrohung, Diebstähle, Nötigung und Beleidigung. 139 Tatverdächtige wurden registriert. Die meisten sind männlich und zwischen 14 und 18 Jahre alt. 90 Prozent von ihnen haben eine deutsche Staatsbürgerschaft. Auch die Opfer seien laut Ripke vorwiegend zwischen 14 und 17 Jahre alt und männlich.

Der Pressesprecher der Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP), Benjamin Jendro, berichtet gegenüber Epoch Times, dass auch in Berlin die Jugendkriminalität seit einigen Monaten wieder steigt. „Es gab einen Rückgang, weil das Thema jahrelang mit viel Personal angegangen wurde. Dann hat man anders priorisiert und so gab es 2022 wieder einen sichtbaren Anstieg. Vor allem steigen Angriffe aus Gruppen und die Kriminalität von Jugendbanden.“

Grund dafür sei unter anderem die Pandemie, weil laut Jendro soziale Bindungen durch Institutionen wie Sportvereine oft einen sehr positiven Effekt auf die Entwicklung von jungen Menschen hätten und diese vielfach weggebrochen seien.

„Wir müssen zudem klar darüber sprechen, dass sich immer mehr Heranwachsende mit Messern und anderen Sachen bewaffnen und sie mitunter sehr jung sind, wenn sie das erste Mal in Erscheinung treten.“

Gipfel gegen Jugendgewalt

Anlässlich der Jugendgewalt versammelten sich am Mittwoch in Berlin rund 30 Vertreter von Politik, Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz sowie Integrations- und Sozialarbeit bei einem Gipfel zur Jugendgewalt.

Berlins regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kündigte nach dem Gipfel eine konzentrierte Aktion für mehr Respekt und gegen Jugendgewalt an. „Wir haben nicht nur Redebedarf, sondern wir haben auch Handlungsbedarf“, sagte sie. Der Senat wolle weitere Ausgaben für Sozialarbeit in Milliardenhöhe ermöglichen.

Die Ereignisse in der Silvesternacht nennt Giffey eine Zäsur. Es sei notwendig, sich mit den tiefgehenden Problemen dahinter auseinanderzusetzen. Vier Bereiche sollen zukünftig im Fokus stehen: intensivere Sozialarbeit mit Elternhäusern, neue Orte für Jugendliche, mehr außerschulische Jugendsozialarbeit und konsequente Strafverfolgung.

Berlinweite Anlaufstelle Jugendgewalt

Landeschef der GdP, Stephan Weh, fordert, das Thema Jugendkriminalität losgelöst von der Silvesternacht anzugehen. „Jugendkriminalität gibt es nicht nur an solch extremen Ereignissen wie in der Silvesternacht. Das Problem haben wir 365 Tage im Jahr“, betont auch Jendro in einem Gespräch mit der Epoch Times.

Weh fordert für Berlin ein klares einheitliches Konzept mit klaren Zuständigkeiten. Außerdem brauche es eine dauerhafte zentrale berlinweite Anlaufstelle Jugendgewalt, „da die Bezirke hier auf Expertise, Strukturen und Erfahrungen zurückgreifen können“.

Jendro äußert gegenüber Epoch Times, dass vor allem schnellere und qualitativ bessere Verfahren bei Jugendlichen nötig wären. „Bei ihnen geht es um Resozialisierung“, führt er aus. Heranwachsende müssen möglichst davor geschützt werden, komplett in die Kriminalität abzurutschen.

Dabei sei eine institutionsübergreifende Zusammenarbeit besonders wichtig. Es brauche eine bessere Zusammenarbeit von Sozialarbeitern, Angestellten des Bildungssystems und Familien. Das Ziel sollte sein, Straftaten frühzeitig zu vermeiden und zu verhindern, dass Justiz und Polizei einschreiten müssen.

Am 22. Februar solle es ein weiteres Treffen geben, bei dem Konzepte ausgearbeitet und der Finanzbedarf geklärt werden.

Mehr Schein als Sein?

CDU-Bundesvize Silvia Breher und CDU-Generalsekretär Mario Czaja bezeichneten den Gipfel gegen Jugendgewalt als Wahlkampfmanöver. Vielmehr forderte die Familienpolitikerin, „endlich durchzugreifen und konsequent zu handeln“.

Czaja bekräftigt außerdem, dass Gipfel nicht nur angekündigt werden sollten. Vielmehr müssten Politiker „alle bereits vorhandenen Möglichkeiten ausschöpfen und konsequent anwenden – das ist das Gebot der Stunde“. Zudem wirft er Giffey einen Ablenkungsversuch vor: „Ihr Gipfel soll Aktion suggerieren, um zu vernebeln, dass unter ihrer Führung Polizei und Justiz zunehmend an Handlungsfähigkeit verlieren.“

Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) erhofft sich „langfristig tragende Lösungen“ durch den Gipfel. „Jugendarbeit lebt davon, dass zwischen Jugendlichen und Sozialarbeit Vertrauen aufgebaut wird, und das braucht seine Zeit.“

Er warnte allerdings auch vor einer Symbolpolitik. Nötig seien Vereinbarungen, um die Jugendarbeit auf lange Zeit zu stärken. „Dazu gehört mehr Streetwork und mehr Sozialarbeit, aber das ist eben ein langatmiges Geschäft.“

Auch Jendro betont: „Ein Konzept, das auf Zusammenarbeit beruht, kostet Geld und Personal“. Und: Es gehe nicht von heute auf morgen. Er äußert sich jedoch zuversichtlich und sieht eine Bereitschaft der Berliner Bezirke, sich dem Thema anzunehmen.

So bekräftigte auch Berlins Bürgermeisterin: Der Gipfel gegen Jugendgewalt sei „keine Eintagsfliege, sondern der Beginn eines Prozesses“.

[Mit Material von Nachrichtenagenturen]



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