Inzidenz-Ziel „irreal“: Experte Schrappe warnt vor „unendlichem Lockdown“

Der medizinische Sachverständige Matthias Schrappe hat in Medien der Bundesregierung vorgeworfen, mit dem Inzidenz-Ziel von 50 Corona-Fällen pro 100.000 Einwohner ein irreales Ziel definiert zu haben. Damit drohe ein dauerhafter Lockdown. Er plädiert für andere Wege.
Titelbild
Menschen während der Corona-Pandemie in Berlin.Foto: Epoch Times
Von 5. Dezember 2020

Der Mediziner und Leiter einer Expertengruppe Matthias Schrappe, der von 2007 bis 2011 stellvertretender Chef des Sachverständigenrats für Gesundheit war, hat die Corona-Politik der Bundesregierung erneut scharf kritisiert. In einem Gespräch mit der „Bild“-Zeitung erneuerte Schrappe seine Vorbehalte gegen die vorrangige Orientierung an Inzidenzwerten und warnt vor einem drohenden „unendlichen Lockdown“.

Schrappe: „Wir werden das nicht erreichen“

Der seit November geltende und am vergangenen Mittwoch bis Januar verlängerte sogenannte „Wellenbrecher-Lockdown“ sei wirkungslos, betont Schrappe. Die Zahlen der vergangenen Wochen geben ihm Recht: Seit Anfang November bewegt sich der Sieben-Tages-Durchschnitt bei der Zahl der positiv Getesteten stabil in einem Korridor zwischen 17.000 und 18.500, auf einige Tage sinkender Zahlen erfolgte wieder ein Ausbruch nach oben. Das im Wesentlichen gleiche Szenario hat sich in dieser Zeit bereits fünf Mal wiederholt.

Schrappe rechnet nicht damit, dass dieser Trend abreißt. Vielmehr sieht er den von der Bundesregierung vorgegebenen Zielwert einer Inzidenz von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner als „völlig irreal“. In „Bild“ erklärt er unumwunden:

Wir werden das in den Wintermonaten nicht erreichen.“

Und fügt hinzu, dass es keine gute Politik wäre, ein nicht erreichbares Ziel auszugeben. Dies bewirke einen „Dauer-Schockzustand“ in der Bevölkerung und möglicherweise einen „unendlichen Lockdown“.

Selbst wenn es tatsächlich gelingen sollte, die Entwicklung der Zahlen auf den gewünschten Wert zu drücken, würde es wieder zu einem Anstieg kommen, sobald die Maßnahmen gelockert worden wären.

Lockdown auf Spekulationen gestützt?

Bereits im November hatte Schrappe in einem ZDF-Interview erklärt, die Daten, auf die sich die Lockdown-Politik der Bundesregierung stütze, seien „das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind“. Selbst wenn statt einer Million Menschen in Deutschland 2,5 Millionen getestet würden, ließe sich trotzdem nur mutmaßen, wie viele Personen tatsächlich infiziert seien.

Viele Träger des Virus wüssten nicht um ihre Infektion, deshalb bleibe die Dunkelziffer hoch und ein aussagekräftiges Bild über das Infektionsgeschehen lasse sich nicht gewinnen. Zudem sei der Ansatz zu pauschal und lasse es an gezielten Maßnahmen zugunsten der eigentlichen Risikogruppen vermissen.

Er halte es „als Wissenschaftler und als Bürger für ein Unding“, so Schrappe, dass auf der Basis reiner Mutmaßungen Grundrechte eingeschränkt würden.

In Deutschland wahrscheinlich bis zu 900.000 Neuinfektionen pro Woche

Auch in der „Ärzte-Zeitung“ meldete sich Schrappe im Namen der von ihm gegründeten Expertengruppe zu Wort. Diese umfasst derzeit neun Wissenschaftler und Praktiker, die nach Alternativen zur derzeitigen Corona-Politik suchen. Neben Schrappe sind unter anderem auch Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen, der BKK-Dachverbandsvorsitzende Franz Knieps und die ehemalige Pflegedienstleiterin der Charité Hedwig Francois-Kettner mit von der Partie.

Die Gruppe tritt dafür ein, auf repräsentative Kohortenstudien und Konzepte gezielt für schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen umzusteigen, heißt es in einem Thesenpapier.

Daraus ließen sich auch valide Zahlenwerte gewinnen. Mit Massentestungen wie in der Slowakei oder seit Freitag (4.12.) in Österreich würde man in Deutschland mutmaßlich nicht auf 130.000, sondern auf knapp 900.000 Neuinfektionen pro Woche kommen. Auch deshalb sei das Ziel, die Inzidenz auf 50 Fälle pro 100.000 Bürger zu senken, unrealistisch.

Mit „fantasievollem“ Ansatz Risikogruppen schützen

Die am stärksten gefährdete Personengruppe, so Schrappe, sei klar definierbar als jene älterer und vorerkrankter Menschen sowie Personen, die sich in Heimen, Betreuungseinrichtungen oder der ambulanten Pflege befänden. Durch einen „fantasievollen“ Ansatz könne „viel Produktives entstehen“ und die Akzeptanz der Corona-Politik in der Bevölkerung könne wieder wachsen.

Stattdessen setze die Bundesregierung auf Angstszenarien wie ein mögliches Massensterben und eine Überlastung des Gesundheitssystems. Dabei sei das „schlecht organisierte“ Gesundheitssystem in Bergamo, das im Frühjahr Horrorbilder produzierte, die um die Welt gingen, mit dem in Deutschland überhaupt nicht zu vergleichen.

Situation in Deutschland unterscheidet sich von der in Bergamo

In die gleiche Kerbe schlägt auch Ralf Klostermann in der „Bild“-Zeitung. Er bestreitet ebenfalls, dass die Situation in Deutschland auch nur annähernd mit Bergamo zu vergleichen sei. Deutschland habe ausreichend Intensivbetten, Ärzte und Pfleger.

Klostermann wittert andere Begehrlichkeiten hinter den Angstszenarien: Sein Verdacht ist, dass durch die Verbände, die mit ihnen operieren, „Druck auf die Politik ausgeübt werden soll, um mit Steuer-Milliarden angeschlagene Kliniken zu sanieren“. Dies sei inakzeptabel:

„Niemand darf die Angst der Menschen ausnutzen. Kein Politiker, um noch schärfere Maßnahmen durchzudrücken, noch Lobbyisten, um mehr Geld für ihre Branchen herauszuholen.“



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