Internationale Energieagentur: Europas Versorgungskrise ist noch nicht ausgestanden
Der Vorsitzende der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, hat Europa erneut davor gewarnt, sich vor dem Winter 2023/24 in Sicherheit zu wiegen. Zwar sei für die derzeitige kalte Jahreszeit mit keiner Gasmangellage mehr zu rechnen. Die fallenden Gaspreise seien jedoch kein Grund, die Versorgungskrise vorschnell abzuhaken.
IEA: „Der nächste Winter wird noch kritischer“
Der bislang eher milde Winter hat die Krisensituation vorerst entschärft. Die Gasspeicher sind noch so voll, dass die Versorgung bis ins Frühjahr gesichert sein dürfte. Der NDR ging im November des Vorjahres davon aus, dass der Füllstand der Speicher am 1. Februar immer noch 40 Prozent betragen werde.
Entwarnung dürfe es dennoch nicht geben, unterstreicht Birol im Gespräch mit dem „Handelsblatt“. Europa müsse seinen Gasverbrauch weiter senken.
Es sei der nächste Winter, der ihm Sorgen bereite, erklärt der IEA-Chef:
Kein russisches Gas, Chinas Comeback als Importeur, wenig Angebotszuwachs: Diese drei Faktoren machen den nächsten Winter zur Herausforderung.“
Auch der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, äußert gegenüber dem Blatt: „Der nächste Winter ist der noch kritischere.“
Birol bescheinigt Deutschland „falsche Energiepolitik“
IEA-Chef Birol sieht insbesondere die deutsche Energiepolitik der vergangenen Jahre äußerst kritisch. Sie trage entscheidend zur angespannten Versorgungslage in Europa insgesamt bei. Zwar sei positiv anzumerken, dass es tatsächlich Bewegung beim Ausbau von Windkraft und Solaranlagen gebe. Allerdings habe der bisherige Weg der Energiewende zu Angebotsverknappung, hohen Preisen und Abhängigkeiten geführt. Mit Blick auf die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen meint Birol:
Es war eine falsche Energiepolitik, bei einem strategisch so wichtigen Energieträger wie Gas so lange nur auf ein Land zu setzen.“
Viel aus den Fehlern der ersten Jahre der Energiewende scheint Deutschland jedoch nicht gelernt zu haben. Birol hält insbesondere das dogmatische Festhalten am Atomausstieg für unverständlich:
Ich wünschte, es gäbe die Möglichkeit, die Laufzeiten bei Bedarf deutlich stärker zu verlängern.“
Starke Weltmarktdominanz Chinas bei Seltenen Erden und Solarpanels
Im Übrigen drohe eine einseitige Ausrichtung auf erneuerbare Energien neue Abhängigkeiten zu erzeugen – diesmal von China und dessen KP-Regime. Birol weist darauf hin, dass die Fertigung von rund 70 Prozent aller Batterien für E-Autos in China stattfinde.
China ist zudem bezüglich der weltweiten Förderung Seltener Erden für rund 61 Prozent der weltweiten Minenproduktion verantwortlich. Dazu kommen noch nicht erschlossene Vorkommen in Ländern, über die das KP-Regime eine strategische Kontrolle erlangt hat – etwa Afghanistan. Die USA kommen demgegenüber nur auf einen Marktanteil von etwa 15,5 Prozent.
Der chinesische Anteil an allen Fertigungsstufen der Produktion von Solarpanels beträgt inzwischen über 80 Prozent, warnt die IEA. Auch bei der Windkraft steigt der Weltmarktanteil chinesischer Hersteller kontinuierlich.
Europa müsse neue Lieferanten finden und selbst in die Förderung kritischer Mineralien einsteigen, macht Birol deutlich.
China wird mit starker Nachfrage auf den LNG-Markt zurückkehren
Bereits im November 2022 hatte der Chef der IEA vor falscher Sicherheit mit Blick auf die europäische Versorgung gewarnt. Während Russland trotz des Krieges in der Ukraine bis in den Sommer hinein Gas geliefert habe, sei damit jedoch nicht mehr zu rechnen.
Gleichzeitig werde sich Chinas Wirtschaft zunehmend von der Corona-Krise erholen. Eine Konsequenz daraus werde sein, dass das KP-Regime nach zuletzt rückläufigen LNG-Importen nun umso stärker als Nachfrager auftreten werde. Dies werde nicht ohne Folgen für Angebot und Preise auf dem Weltmarkt bleiben.
Sollte die kommunistische Führung 2023 wieder auf gewohntem Niveau Flüssiggas importieren, könnte Europa das Nachsehen haben. Der IEA zufolge könnte fast die Hälfte des Gases für ein 95-prozentiges Auffüllen der Speicher fehlen, äußerte Birol.
IEA hat Auswirkungen westlicher Sanktionen auf Russland überschätzt
Auch in Davos warnte der IEA-Präsident vor falschen Hoffnungen auf ein Ende der Energiekrise. Wie „Reuters“ berichtet, bezeichnete er chinesische Nachfrage und russische Lieferbereitschaft als die großen Unbekannten im Markt.
Die IEA habe die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die russischen Ölexportmengen zu Beginn der Invasion in der Ukraine bei Weitem überschätzt, räumte Birol ein. Die Organisation ging davon aus, die Ölmärkte könnten bis zu drei Millionen Barrel pro Tag verlieren.
Zwar seien Russlands Ölexporte jetzt rückläufig und würden in der ersten Jahreshälfte weiter zurückgehen. Russisches Rohöl und Produkte fänden dennoch Abnehmer in Asien, insbesondere in Indien und China. Der Erfolg des europäischen Versuchs, Russland durch eine Preisobergrenze unter Druck zu setzen, könnte deshalb weniger durchschlagend sein als vom Westen erhofft.
(Mit Material von AFP)
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