Im «Zwiebelkeller» der Geschichte: Nationaldichter Grass
Es ist das Jahr 1949, und die Menschen wollen endlich wieder weinen können in diesem – trotz oder gerade wegen des großen Leids – „tränenlosen Jahrhundert“. Statt Essen gibt es nur Brettchen mit Messer und Zwiebeln für die Gäste, die mit den Tränen auch endlich über ihre Schicksale sprechen können.
Erinnerungsarbeit über deutsche Schuld und die literarische Kompensation des Heimatverlustes prägen das gewaltige Werk von Grass, der am Montag im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Nicht nur in der vielgerühmten „Danziger Trilogie“, zu der neben der „Blechtrommel“ auch „Katz und Maus“ und „Hundejahre“ gehören, sondern auch in der Novelle „Im Krebsgang“ über das Schicksal der zwölf Millionen Vertriebenen am Beispiel des Untergangs der „Wihelm Gustloff“ 1945 mit Tausenden Flüchtlingen an Bord in der Ostsee, versenkt durch ein russisches U-Boot.
Schwierige Erinnerungsarbeit leistete Nobelpreisträger Grass in eigener Sache spät auch in seinem autobiografischen Meisterwerk „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006). Erstmals berichtete er hier über seine kurze Zeit bei der Waffen SS wenige Monate vor Kriegsende. Die Schilderungen sind ein literarisches Mahnmal über das Grauen des Krieges. Öffentlich diskutiert wurde aber fast nur die späte SS-Beichte, Grass wurde mit Häme überzogen, ihm jede Glaubwürdigkeit abgesprochen.
Schon mit zwölf Jahren wollte Grass Künstler werden, es habe wohl in den Genen gelegen, sagte er einmal. Und so studierte er zunächst in Düsseldorf und Berlin an den Kunsthochschulen und arbeitete zeitlebens auch als Bildhauer, Zeichner und Maler. Seinen frühen Erfolg als Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg empfand der Sohn sogenannter kleiner Leute aus dem Danziger Vorort Langfuhr selber als märchenhaft.
Mit seiner damaligen Frau Anna, einer Schweizer Ballettstudentin, zieht er 1956 nach Paris. In den drei Pariser Jahren entsteht am Stehpult im feuchten Heizungsraum eines Hinterhofanbaus, der Roman „Die Blechtrommel“. Deren kleiner Protagonist Oskar Matzerath begeistert 1958 bereits die legendäre Schriftstellergruppe 47. Grass trägt aus seinem fast fertigen Roman vor, gewinnt den Preis von damals gewaltigen 4500 Mark. Mehr als 40 Jahre später erhält er 1999 ebenfalls für „Die Blechtrommel“, jenen Schelmenroman über die jüngere deutsche Geschichte, den Literaturnobelpreis.
Untrennbar blieb für Grass sein Handeln als Schriftsteller und als Bürger. Seine politische Heimat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialdemokratie. Reformen in kleinen Schritten, nicht der vermeintlich große Wurf einer Ideologie, lautete Grass‘ politische Überzeugung. Willy Brandt, den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, unterstützte er seit Anfang der 1960er Jahre.
Aussöhnung mit Polen, Gerechtigkeit im Nord-Süd-Konflikt, das Elend in Kalkutta, eine gerechtere deutsche Wiedervereinigung, bei der die Ostdeutschen nicht über den Tisch gezogen werden, Engagement für verfolgte Autoren weltweit, die Golfkriege, Gefahren der Atomenergie oder der Nahostkonflikt – Grass meldete sich nahezu zu jedem wichtigen Thema zu Wort. Die Weimarer Republik sei wegen zu weniger kämpferischer Demokraten zugrunde gegangen, erklärte er sein Engagement als historische Lehre.
Hinter den oft donnergrollenden Rollen des öffentlichen Polit- und Literaturtheaters ist der Mensch Grass kaum wahrgenommen worden. Er, der von sich selbst sagte, einen Mutterkomplex zu haben. Der es Frauen nicht immer leicht gemacht hat. Von drei Partnerinnen hat Grass insgesamt sechs Kinder. Seine zweite Frau Ute Grunert brachte selber zwei Kinder in die Familie mit, 1979 wurde geheiratet.
Leidenschaftlich gern kochte Grass, seine bevorzugt deftigen Essen waren nicht jedermanns Geschmack, die Liebe zum Rotwein bleibt unvergessen. Grass war ein Familientier, die Enkelschar der Patchworkfamilie wuchs im Laufe der Jahre, in vielen Sommern zu Gast im Ferienhaus mitten im Wald der dänischen Insel Møn.
Die Jahre mit Ute hatten feste Zyklen: Im Winter lebte er im Ferienhaus in Portugal, im Sommer auf Møn mit Badefreuden in der Ostsee. Stammsitz wurde ein altes Haus mit Arbeitsatelier in Behlendorf bei Lübeck, gelegen an einem Kanal. Dort schrieb Grass per Hand und tippte dann seine Manuskripte auf einer alten Olivetti Schreibmaschine. Oft kam Grass auch nach Berlin, wo er früher gelebt hatte, oder nach Hamburg. Das Flüchtlingskind, wie sich Grass immer empfand, fand keine richtige neue Heimat.
Wenige haben so polarisiert und provoziert wie Grass, selbst noch im hohen Alter „mit letzter Tinte“ in seinem Israel-kritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2012). Aber wenige haben auch soviel einstecken müssen wie Grass, dem „Zunge zeigen“ – so einer seiner Buchtitel – Markenzeichen war.
Grass‘ letzter großer Auftritt war bei der Blechtrommel-Uraufführung am 28. März im Hamburger Thalia Theater, als er in der ersten Reihe mit seiner Frau bei der Aufführung zuschaute und sich danach mit dem Ensemble den Schlussapplaus abholte. Und beim 10. Lübecker Autorentreffen Anfang März hatte Grass unvermittelt in einer Runde der versammelten Autoren zu dem Autor Tilman Spengler gesagt: „Wenn ich einmal nicht mehr bin, Tilman, übernimmst Du bitte diese Runde.“
(dpa)
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