Heils geplante Einsparungen beim Bürgergeld sorgen für Kopfschütteln unter Fachleuten
Wer seinen Job aufgebe, um Bürgergeld zu beziehen, müsse schon „bescheuert“ sein. Mit markigen Worten kommentierte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil noch im November 2023 in der ARD-Sendung „Hart aber Fair“ die Frage, ob der Arbeitsanreiz noch hoch genug sei angesichts einer geplanten Erhöhung der staatlichen Unterstützung um zwölf Prozent ab Januar 2024.
Doch inzwischen scheint der SPD-Politiker eine andere Haltung zu haben, wie sich aus einer Erklärung seines Ministeriums ablesen lest. Sie enthält Sanktionen gegen Bürgergeldempfänger, mit denen Heil jährliche 170 Millionen Euro einsparen will, schreibt das „Handelsblatt“.
Nur maximal 30 Prozent Kürzung erlaubt
Bürgergeldempfängern dürfen eigentlich nur noch maximal 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden – etwa wenn sie nicht an mit dem Jobcenter vereinbarten Fortbildungen teilnehmen. Diese im Vergleich mit Hartz IV milde Sanktion ist auch eine Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das bereits 2019 befand, dass das Existenzminimum bei mehr als 30 Prozent Kürzungen nicht mehr gesichert sei.
Höhere Zahlungen und mildere Sanktionen mache es Bürgergeldempfängern zu einfach, kritisierte die Union im Bundestag. Arbeit lohne sich dann vielfach nicht mehr, hieß es vonseiten der Oppositionsfraktion.
Ende 2023 kündigte der Arbeitsminister dann an, dass das Jobcenter den kompletten Regelsatz für bis zu zwei Monate doch streichen könne. Dies sei dann möglich, wenn Empfänger zumutbare Arbeitsangebote nicht annehmen wollen. Bezahlt werden dann lediglich Miete und Heizung. Möglich machte dies ein „Schlupfloch“, dass das Bundesverfassungsgericht gelassen hatte, so das „Handelsblatt“ weiter.
Die Höhe der von Heil avisierten Einsparungen sorgen unter Fachleuten allerdings für Kopfschütteln. Dank der verschärften Sanktionen kündigt Heil 150 Millionen Euro geringere Ausgaben beim Bund und 20 Millionen Euro bei den Kommunen an – jährlich.
Heils Kalkulation eine „Schätzung auf Grundlage der bisher bekannten Sanktionen“
Doch die Zahlen entbehren offenbar jeder Grundlage. Selbst zu Hartz-IV-Zeiten, als stärkere Sanktionen noch möglich waren, waren jährlich nur etwa drei Prozent der erwerbsfähigen Empfänger von Arbeitslosengeld II von Leistungskürzungen betroffen. Nur bei wenigen tausend Menschen wurden die Zahlungen komplett eingestellt.
Im August vergangenen Jahres lag der Anteil der Sanktionierten unter den rund 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldempfängern nur noch bei 0,6 Prozent. Das waren knapp 24.000 Menschen. Angesichts dieser Zahlen seien Einsparungen in Höhe von 150 Millionen Euro für den Bundeshaushalt kaum möglich – selbst bei einer zeitweisen kompletten Streichung.
Nachdem es laut „Handelsblatt“ auch in der Bundespressekonferenz Nachfragen zu dem hohen Einsparpotenzial gab, lieferte Heils Ministerium eine Erklärung nach. So handele es sich um „eine Schätzung auf Grundlage der bisher bekannten Sanktionen sowie einer großen präventiven Wirkung der Neuregelung“.
Ziel der Neuregelung, schreibt das Ministerium weiter, sei, dass Menschen „idealerweise gar nicht erst bedürftig werden bzw. bleiben, weil sie künftig zumutbare Arbeitsangebote nicht ablehnen oder ihre Arbeit bereits zuvor nicht aufgeben“. Mit dem letzten Satz lässt das Arbeitsministerium allerdings Raum für Interpretationen. So könne die Erhöhung des Bürgergeldes eventuell doch ein Anreiz sein, einen schlecht bezahlten Job zu kündigen.
Kritik aus vielen Richtungen
Kritik an Heils Plänen kommt aber auch aus Sozialverbänden, aus den eigenen Reihen und vom grünen Koalitionspartner, schreibt die „Welt“. So hält Andreas Audretsch (Grüne) das Vorhaben für verfassungswidrig. Zwar setzt das Urteil von 2019 klare Grenzen, doch hält das Arbeitsministerium eine komplette Streichung der staatlichen Hilfe für möglich. „Über die mit dem Bürgergeld-Gesetz zum 1. Januar 2024 in Kraft getretene Neuregelung hinaus hat das Bundesverfassungsgericht auch einen vollständigen Wegfall der Leistungen in bestimmten Fallkonstellation als möglich erachtet. Diese Möglichkeit wird nunmehr gesetzlich ausgestaltet“, antwortete das Ministerium der „Welt“ auf eine Nachfrage Ende Dezember 2023.
Das entsprechende Haushaltsfinanzierungsgesetz ist zurzeit noch ein Entwurf. Doch droht Heil bereits jetzt Ärger. Alexander Thiele, Jurist und Professor für Öffentliches Recht an der Berliner BSP Business & Law School, weist in einer Stellungnahme für den Haushaltsausschuss auf Folgendes hin: „Voraussetzung ist (…), dass dem oder der Betroffenen eine zumutbare und existenzsichernde Arbeit tatsächlich angeboten wird, die unter Berücksichtigung etwaiger Besonderheiten des konkreten Einzelfalls sodann jedoch ohne wichtigen Grund gleichwohl verweigert wird. Diesen strengen Anforderungen wird die Neuregelung in der aktuellen Fassung nicht gerecht.“
Thiele gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht verlange, dass es sich bei der angebotenen Arbeit durch die Jobcenter sowohl um eine zumutbare als auch „existenzsichernde Arbeit“ handele. Das würde bedeuten, dass es sich dabei um eine Vollzeit-Stelle ohne weiteren Bezug von Bürgergeld – also keine sogenannten „Aufstocker“, die zusätzlich zur Arbeit auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind – handele.
Zwei Juristen, zwei Meinungen
„Erst in einem solchen Fall, wenn also die angebotene Arbeit bereits für sich und ohne weitere staatliche Hilfsleistungen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, befindet sich der oder die Betroffene in einer Situation, die – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – mit derjenigen vergleichbar ist, in der von vornherein keine Bedürftigkeit vorliegt“, schreibt Thiele.
„So wie ich das Gericht verstehe, geht es also davon aus, dass eine vollständige Streichung des Anspruchs voraussetzt, dass man die realistische Chance hatte, mit der Annahme der angebotenen Arbeit dem Bürgergeld gänzlich zu entkommen“, so der Jurist gegenüber der „Welt“. „Anders gewendet: Eine ‚Aufstockungsarbeit‘, die ja weiterhin stigmatisiert, kann man ablehnen, riskiert dann aber gewisse Kürzungen.“
Eine andere Sicht hat Hans-Günter Henneke, Jurist von der Universität Osnabrück. Die Definition „existenzsichernd“ könne nicht so gemeint sein, dass nur eine Person, die Existenz eines ganzen Haushalts, also inklusive Ehepartner und Kinder, sichern müsse, sagte er in der Anhörung vor dem Ausschuss. „Wir können nicht so weit gehen, dass alles abgesichert werden muss.“
Ministerium sieht Einklang mit Bundesverfassungsgericht
Auch Heils Ministerium äußert sich: „Die Regelung steht im Einklang mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und sichert die gebotene Verhältnismäßigkeit der Regelung im Einzelfall“, sagt eine Sprecherin. Laut den Zielen des zweiten Sozialgesetzbuches sei es keine Voraussetzung für den Wegfall des Regelbedarfs, dass die angebotene Arbeit zu einer unmittelbaren vollständigen Überwindung der Hilfebedürftigkeit führt.
So könne es sich nach Meinung des Ministeriums sehr wohl auch um Teilzeitjobs handeln, deren Verdienst nicht für die komplette „Existenzsicherung“ des einzelnen oder eines ganzen Haushalts ausreichen. „Andernfalls wäre der Leistungsentzug von der Größe der Bedarfsgemeinschaft oder der Höhe der Unterkunftsbedarfe und den jeweils zu diesem Zeitpunkt bestehenden Einkommensverhältnissen abhängig“, so die Sprecherin. „Eine Ungleichbehandlung soll vermieden werden.“
Falls ein Gericht Thieles Beurteilung bestätigt, hieße das, dass sich der ohnehin sehr kleine Personenkreis der Verweigerer, die sanktioniert werden dürfen, noch einmal verkleinert. Denn dass Arbeitslose einen Vollzeit-Job beginnen, bei dem sie auf keine zusätzlichen Sozialleistungen angewiesen sind, sei nicht immer der Fall.
„Dass damit insgesamt 170 Millionen Euro eingespart werden sollen, erscheint mir, vorsichtig gesagt, eher ‚optimistisch‘“, kommentiert Thiele die Prognose Heils.
Chef des Wohlfahrtsverbandes hält Heils Pläne für verfassungswidrig
Grundsätzlich handele es sich nur um wenige Bürgergeldempfänger, die überhaupt sanktioniert würden. Daher sei das Einsparpotenzial übersichtlich, kritisiert Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. So seien von Januar bis August 2023 bundesweit lediglich 137.866 Leistungsminderungen neu festgestellt worden.
Die meisten dieser Fälle erklärte die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit nicht wahrgenommene Beratungsterminen. Arbeitsverweigerung gab es laut Sprecherin lediglich in 8500 Fällen.
Im Zusammenhang mit Heils Plans kursiert allerdings die Zahl von 150.000 Menschen, die von einer Leistungskürzung wegen Arbeitsverweigerung betroffen sein könnten. „Um 170 Millionen Euro im Jahr einzusparen, müssten etwa 150.000 Bürgergeldbeziehende entsprechend sanktioniert werden. So viele willentliche Verweigerer gibt es nicht“, meint Schneider. Er hält die Pläne des Arbeitsministers daher auch für verfassungswidrig.
„Durch die Streichung existenzsichernder Regelleistungen würden die Betroffenen, die vielfach eigentlich auf individuelle Beratung und Hilfe in schwierigen Lebenssituationen angewiesen wären, in Not und Überschuldung getrieben“, befürchtet der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. „Es dürfte aller Voraussicht nach zu einer hohen Zahl von Widersprüchen und Klagen kommen – im Zweifelsfalle erneut bis nach Karlsruhe“, glaubt er.
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