Heftige Bundestagsdebatte um „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ – Teil 1
Reisebeschränkungen, Quarantäne, Kontaktverbote. Politisch und juristisch gesehen befindet sich Deutschland seit Ende März in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Seither wurden dem Bundesgesundheitsministerium bestimmte Vollmachten zum Schalten und Walten über das Land übertragen. Das Parlament hat sich vorbehalten, den Notstand zu beenden. Dazu lag nun zum zweiten Mal ein Antrag vor. Nachdem die AfD mit ihrem Antrag im Mai gescheitert war, versuchte die FDP die ausgerufene epidemische Lage zu beenden – und scheiterte ebenfalls.
Erwin Rüddel (CDU) gab den Auftakt der Diskussionsrunde. „Das Coronavirus ist nicht schwächer geworden. Es ist genauso hochinfektiös wie zu Beginn der Pandemie im Frühjahr.“ Allerdings sei man stärker geworden und inzwischen besser aufgestellt als im März, weil eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ausgerufen und weitreichende Befugnisse auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen worden seien. Das Ministerium habe von seinen Ermächtigungen „umsichtig und maßvoll“ Gebrauch gemacht und den Gesundheitsausschuss zeitnahe, transparent, bereitwillig und umfassend informiert.
Zulassung einer AfD-Zwischenfrage sorgt für Empörung
Daraufhin meldet sich der AfD-Politiker Dr. Bruno Hollnagel zu Wort und bittet um eine Zwischenfrage. Während Abgeordnete anderer Parteien ausdrücklich „Nein“ fordern, antwortet Rüddel: „Ich machs“ und sorgt damit für Unverständnis und Empörung bei seinen Kollegen.
Die Frage lautete: „Sie haben gerade, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gesagt, dass durch den Lockdown ganz Schlimmes verhindert worden wäre. Dazu eine Frage: Ist Ihnen bekannt, dass am 23.03., als der Lockdown beschlossen worden ist, der R-Wert bereits unter eins lag?“
Die Pandemie sei „ziemlich gleichzeitig“ auf der Welt und in Europa ausgebrochen, erklärte Rüddel. In Deutschland sei die Lage deshalb besonders gut, weil man frühzeitig konsequent gehandelt habe und die „Einschränkungen, die wir der Bevölkerung zugemutet haben, sind deutlich geringer bei wesentlich größerem Erfolg als fast alle anderen Länder das geregelt haben“. Man müsse anerkennen, dass Politik und das ganze Gesundheitswesen sehr verantwortungsbewusst und gut reagiert haben. Speziell an die AfD gerichtet, fügte Rüddel hinzu: „Und ich möchte nicht wissen, wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären, wie die Zahlen in Deutschland aussehen würden.“
Herbst und Winter würden demnächst vor der Tür stehen. Dann spiele sich wieder mehr in Innenräumen ab. Bereits jetzt würden die Nachbarländer „erschreckende Zahlen täglicher Neuinfektionen“ melden. Es hätte sich gezeigt, dass sich aus örtlichen Hotspots ein Infektionsgeschehen entwickeln könne, das ganze Regionen erfasse. Ehe kein geeigneter Impfstoff gefunden sei, dürfe man das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
„Die Sorge um unser Grundgesetz und um die Grundrechte unserer Bürgerinnen und Bürger ist gewiss aller Ehren wert. Niemand von uns kann aber ein Interesse haben, Rechte des Parlaments einzuschränken oder auszuhebeln. Es geht nur um eins, nämlich den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung angesichts einer weltumspannenden Pandemie.“ Deshalb plädiere Rüddel gemeinsam mit der Mehrheit seiner Kollegen im Gesundheitsausschuss dafür, den Status der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ in Deutschland aufrechtzuerhalten.
Bevor Detlev Spangenberg (AfD) einen anderen Ton anschlagen konnte, ergriff Bundestags-Vize-Präsidentin Claudia Roth das Wort. Man habe bereits eine Stunde Verspätung und nach aktuellem Zeitstand würde die Sitzung bis Mitternacht dauern. Aus diesem Grund kündigte Roth an: Ab sofort strenger auf die Einhaltung der Redezeit zu achten und auch keine weiteren Zwischenfragen zulassen.
AfD bestreitet epidemische Lage von nationaler Tragweite
Anschließend begründete Spangenberg den parteieigenen Antrag, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ sofort aufzuheben und die parlamentarische Kontrolle zukünftig sicherzustellen sowie die Verordnungsermächtigungen zu beenden. Nach AfD-Einschätzung habe am 25. März keine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ vorgelegen, weil die Bedingungen dazu „niemals vorhanden“ gewesen seien. Dabei nahm der AfD-Politiker Bezug auf angeblich fehlende Bettenkapazitäten. Allerdings seien aus dem Ausland COVID-19-Patienten aufgenommen worden. Auch in Deutschland angeblich fehlende Medizinprodukte seien exportiert worden.
Als der Reproduktionsfaktor unter eins lag, habe dies keinen interessiert, so Spangenberg weiter. Auch der Übergang des dynamischen Geschehens in ein lineares Wachstum habe niemanden interessiert. Andererseits seien die Operationen von etwa einer Million schwerkranker Menschen abgesagt oder verschoben worden. Aktuell seien die Sterbefälle und die Zahlen der Intensivpatienten auf niedrigem Niveau und „diese Zahlen geben Anlass alle Maßnahmen zu überdenken“, erklärt Spangenberg unter Bezugnahme auf die Aussage des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen.
Es sei nicht nachweisbar, dass die geringen Sterberaten den eingeleiteten Maßnahmen zu verdanken seien. Auch ohne Lockdown habe es beispielsweise in Schweden keine höheren Sterberaten gegeben. „Schweden versinkt nicht im Virus-Chaos.“ Dort habe man das zugelassen, was für die kommenden Monate und Jahre unausweichlich sei – die eigene Immunisierung.
SPD: Bundestag ist „voll handlungsfähig“
Hilde Mattheis (SPD) führte an, dass die Abgeordneten immer aufgefordert seien, die Rechte des Parlaments und die Wahrung der Grundrechte zu verteidigen. Das sei „selbstverständlich.“ Das habe man im März gezeigt, als nicht der Bundesregierung das Recht übertragen wurde, eine Notlage auszurufen und aufzuheben, sondern der Legislative, sprich dem Bundestag. „Und wir haben uns durchgesetzt,“ so Mattheis.
Seitdem habe man immer wieder überprüft, ob diese Notlage noch existiere. Und nun würde aufgrund des FDP-Antrages darüber diskutiert werden. Eine Anhörung dazu habe gezeigt, dass man auf zwei Dinge achten müsse: „Erstens: Wie ist die epidemische Lage? Und zweitens: Rechtfertigt das die Einschränkung durch entsprechende Maßnahmen?“ Der Großteil der Sachverständigen habe gesagt: „Es ist keine Entwarnung in Sicht, sondern wir müssen im Herbst nicht nur die Zahlen genau beobachten, sondern uns darauf einstellen, dass die Zahlen nochmal höher gehen,“ betonte Mattheis.
Diese Argumente würden rechtfertigen, dass beispielsweise Versammlungen unter gewisse Regeln gestellt werden. An die AfD gewandt sagte die SPD-Politikerin: „Sie finden doch jetzt gerade in Ihren eigenen Reihen Situationen, dass sich jemand angesteckt hat. Und Sie hoffen doch darauf, dass diese Maßnahmen Sie davor schützen.“
Mattheis betonte auch: Der Bundestag sei trotz der ausgerufenen epidemischen Lage „voll handlungsfähig“.
FDP: „Sie zünden hier Nebelkerzen“
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) stellte vorab klar, dass sich ihre Partei nur mit „seriösen Anträgen“, also nicht mit denen der AfD, befasse. Sie persönlich befasse sich auch nur mit „seriösen Redebeiträgen“, daher werde sie auf Spangenbergs Ausführungen nicht eingehen.
Aus demokratischer Sicht sei es für die Partei inakzeptabel, dass die Bundesregierung die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ bis zum 31. März 2021 aufrechterhalten will. Dieser Eingriff in die Parlamentsrechte sei verfassungsrechtlich unzulässig. Dabei werde immer wieder missverstanden, dass das Vorliegen einer Epidemie nicht gleichzusetzen sei mit dem Vorliegen einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. „Sie zünden hier Nebelkerzen,“ sagte Aschenberg-Dugnus. Die ausgerufene Notlage sei nicht erst beendet, wenn die Epidemie beendet sei. Selbstverständlich existiere das Virus und selbstverständlich gebe es die Epidemie, die „uns noch lange begleiten wird“.
Aber – und auch das habe die Anhörung eindeutig ergeben: „Für das Vorliegen einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite muss eine Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems vorliegen, dem nur zentral auf Bundesebene begegnet werden kann.“ Eine solche Situation habe im März vorgelegen. Aber jetzt sei die Situation eine andere. Es gebe keine Versorgungskrise. Die Zahl derjenigen die aktuell intensivmedizinisch behandelt würden, sei auf gleich bleibenden Niveau niedrig, erklärt die FDP-Politikerin unter Hinweis auf die Worte des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn.
Inzwischen würde auf Länderebene über die aktuelle Situation entschieden werden. Das bedeute: „Es muss gerade nicht zentral durch Herrn Minister Spahn gehandelt werden.“ Der Argumentation, dass es zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen könnte und dies als Grund vorgebracht werde, konnte Aschenberg-Dugnus nicht folgen. Es könne nicht sein, dass durch die „bloße Möglichkeit“ die Parlamentsrechte beschnitten würden. „Ich frage Sie: Sind Sie wirklich der Ansicht, dass alle Entscheidungen, die Sie hier einsam getroffen haben, nicht von uns allen gemeinsam beschlossen hätten werden können im Rahmen des Parlementsvorbehalts? Musste hier zwingend das Ministerium allein entscheiden?“ Das sei die entscheidende Frage.
Spahn habe auch gesagt, er hätte „dazu gelernt“, erklärt die FDP-Politikerin. Das gehe ihr aber nicht weit genug. „Die eigene Machtfülle hat er leider nicht kritisch hinterfragt,“ so Aschenberg-Dugnus. Der Parlamentarismus müsse wieder durchgesetzt werden, denn darauf fuße die Verfassung. „Und wenn Ihnen allen unsere Parlamentsrechte noch etwas bedeuten, dann stimmen sie unserem Gesetz und unserem Antrag zu.“
Fortsetzung folgt
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