Hat der Kanzler den Ampelbruch von langer Hand geplant?

Jörg Kukies (SPD), der neue Chef im Bundesfinanzministerium, wusste schon einen Tag vor der Entlassung Christian Lindners, dass er vom Kanzler als Nachfolger auserkoren war. War Scholz nur auf alle Eventualitäten vorbereitet?
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Wusste schon am Tag vor dem Ampelbruch, dass er neuer Finanzminister würde: Ex-Staatssekretär und Lindner-Nachfolger Jörg Kukies (SPD).Foto: RALF HIRSCHBERGER/AFP via Getty Images
Von 14. November 2024

War die Entlassung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) am Abend des 6. November 2024 nur Teil einer schon länger geplanten Inszenierung?

Diese Frage ist spätestens seit Dienstag, 12. November 2024, wieder aktuell. Denn da erklärte Lindners Nachfolger Jörg Kukies (SPD) beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) auf der Bühne des Berliner Hotels Adlon, dass er bereits einen Tag vor dem offiziellen Ampelbruch von seiner möglichen Beförderung vom Staatssekretär zum Minister erfahren habe.

„Es ist natürlich klar, dass sich Bundesfinanzminister und Bundeskanzler regelmäßig austauschen“, erklärte Kukies vor dem SZ-Publikum. Er habe „sehr kurz davor“ erfahren, dass eine neue Aufgabe auf ihn zukommen könnte:

Konkret einen Tag vor dem Mittwoch, dem Koalitionsausschuss, haben wir zum ersten Mal abstrakt darüber gesprochen, dass das eine Möglichkeit sein könnte“ (Video auf X).

Mit anderen Worten: Scholz dachte zumindest schon länger darüber nach, Lindner den Stuhl vor die Tür zu setzen.

Lag Lindner richtig?

Genau das hatte auch Lindner schon am Abend seiner Entlassung während seiner Gegenrede kurz nach dem Kanzlerauftritt behauptet: Dessen „genau vorbereitetes Statement vom heutigen Abend“ belege, „dass es Olaf Scholz längst nicht mehr um eine für alle tragfähige Einigung ging, sondern um einen kalkulierten Bruch dieser Koalition“ (Video auf YouTube).

Seine Parteikollegin, die EU-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann, wies am selben Abend darauf hin, dass Scholz eine bereits vorbereitete Erklärungsrede nach dem Zerwürfnis vom Teleprompter abgelesen hatte. Dies spreche dafür, dass „er im Grunde genommen nicht mehr wollte“. Tags darauf sprach Lindner von einer „Entlassungsinszenierung“ und seiner „menschlichen Enttäuschung“ (Video).

Am Mittwoch, 13. November, erhob Lindner im Bundestag erneut schwere Vorwürfe gegen den Kanzler: „Das war die Forderung nach politischer Unterwerfung oder provoziertem Koalitionsbruch“, sagte der Ex-Minister und FDP-Parteichef über Scholz‘ Aufforderung, unter Missachtung der Schuldenbremse neue Milliardenbeträge zur Unterstützung der Ukraine zu bewilligen (Video ab ca. 11:45 Min. auf YouTube).

Der Finanzminister als Sündenbock? Klingbeil widerspricht

Auch „Focus“-Kommentator Wolfram Weimer hatte Scholz bereits zwei Tage nach dem Ampelende zugeschrieben, den „Ablauf und Zeitplan“ von Lindners Entlassung „vorher genau geplant“ zu haben: „Es handelt sich bei der Trennungsshow um eine durchsichtige Aktion, die FDP für den Wahlkampf zum Sündenbock zu stempeln“, gab sich Weimer im „Focus“ überzeugt. Scholz habe zudem einen „gezielten Versuch des Verfassungsbruchs“ unternommen, der zur Aushebelung der Schuldenbremse dienen sollte.

SPD-Co-Parteichef Lars Klingbeil hatte sich angesichts all der Spekulationen schon am vergangenen Donnerstag in der ARD-Talkshow „Maischberger“ schützend vor seinen Kanzler gestellt: Es sei Lindner gewesen, der die Koalition habe verlassen wollen, so Klingbeil. Angesprochen auf den Teleprompter, erklärte Klingbeil: „Da gehört zu einer Professionalität, die ich als Parteivorsitzender auch zu verantworten habe, dass man sich auf unterschiedliche Szenarien vorbereitet“ (Video ab ca. 37:00 Min. in der ARD-Mediathek).

Nach Informationen der „Bild“ könnte das stimmen. Denn Scholz habe bereits angegeben, mit drei unterschiedlichen Reden für den Fall eines vorzeitigen Koalitionsendes vorbereitet gewesen zu sein. Die Frage, wann genau diese Texte verfasst wurden, bleibt bis auf Weiteres unbeantwortet.

Häme von Bär und Kubicki

Solche Unklarheiten scheinen den FDP-Vizeparteichef Wolfgang Kubicki nicht zu stören. Schon kurz nach Bekanntwerden des Auftritts von Jörg Kukies auf der SZ-Bühne schrieb er auf seinem X-Kanal: „Damit wird die Empörung des Bundeskanzlers als peinliches Schauspiel entlarvt. ‚Respekt‘, Herr Scholz.“

Die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär interpretierte die Sachlage auf ihrem X-Kanal ähnlich:

So krass. Scholz hat es einfach eiskalt geplant. Es war kein plötzliches Momentum während des Koalitionsausschusses. Und kein emotionaler, spontaner Ausfall gegen Christian Lindner – er wollte diesen Ampelbruch. Soviel zum Thema ‚Respekt‘!“

Die letzten Wochen vor der Trennung

Das vorzeitige Ende der rot-grün-gelben Bundesregierung hatte sich schon vor Wochen abgezeichnet. Spätestens nachdem Christian Lindner ein schuldenbasiertes Impulspapier von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) „für eine Modernisierungsagenda“ (PDF) mit einem eigenen Vorschlagsdokument für eine marktwirtschaftliche „Wirtschaftswende“ (PDF) gekontert hatte, hing der Haussegen im Kabinett schief.

Einige Tage lang grenzte sich Lindner fortan demonstrativ gegen seinen Regierungschef ab: Er ließ von der FDP-Bundestagsfraktion eigene Wirtschaftsgipfel mit Mittelstandsvertretern organisieren, obwohl der Kanzler bereits ein eigenes Austauschformat mit den Spitzen der deutschen Industrie ins Leben gerufen hatte.

Ab Sonntagabend, 3. November, schien sich der Dissens zwischen Lindner, Habeck und Scholz zuzuspitzen: Der Kanzler bestellte seinen Finanzminister zunächst zu einem Vieraugengespräch ins Kanzleramt ein. In den Tagen danach versuchten die drei wichtigsten Männer der Regierung, noch einen Konsens in Finanz- und Wirtschaftsfragen zu finden.

Doch die Grundsatzdiskussionen kamen offensichtlich zu spät: Als Lindner sich am Abend des 6. November im Koalitionsausschuss noch immer strikt gegen ein Aufweichen der Schuldenbremse wehrte und notfalls eine Neuwahl im Januar vorschlug, teilte ihm Scholz seine Entlassung mit. Kurz danach trat der Kanzler selbst vor die Kameras, um seine Vertrauensfrage und Neuwahlen anzukündigen. Dabei ließ er kaum ein gutes Haar an seinem liberalen Finanzminister.

Bevor am frühen Nachmittag des 7. November Lindner seine Entlassungsurkunde im Schloss Bellevue empfing, hatte kaum jemand Jörg Kukies, den ehemaligen Chef der Investment-Bank Goldman Sachs in Deutschland, als seinen Nachfolger auf dem Schirm.

Es schien zunächst wahrscheinlich, dass Scholz für die Neubesetzung auf die offizielle Vertretungsregelung der Regierung zurückgreifen würde. Demnach hätte eigentlich Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den vakanten Posten Lindners ausfüllen sollen. Doch Habeck hatte schon am Morgen im „Deutschlandfunk“ mangels Interesse abgesagt.



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