Hans-Werner Sinn: Politik verliert das Maß – „Nur Corona rufen und schon fließen die Milliarden“
Der Publizist Gabor Steingart hat in seinem „Morning Briefing“ vom Dienstag (15.12.) darauf hingewiesen, dass bedingt durch die Corona-Krise mit einer erheblichen Ausweitung der Staatsquote zu rechnen sein wird. Der langjährige „Handelsblatt“-Herausgeber sieht eine Rückkehr von Zuständen wie in den 1990er Jahren, wo das Verhältnis der gesamten Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei 54,7 Prozent lag.
Anders als damals werde der Staat, so glaubt Ökonom Hans-Werner Sinn, diese Machtfülle auch in der wirtschaftlichen Sphäre so schnell nicht wieder hergeben.
Steingart: Staatsquote fast so hoch wie 1995
Zwischen 1960 und 1975 war die Staatsquote in Deutschland von 32,9 auf 48,8 Prozent angewachsen. Im Jahr 1995, als die Staatsquote um 0,5 Prozent höher als jetzt gelegen hatte, war beispielsweise der Börsengang der Deutschen Telekom noch nicht vollzogen und auch die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn war erst in ihrer Entwurfsphase. Der nunmehrige Wert von 54,2 Prozent stellt gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 8,9 Prozent dar.
In seinem ausführlichen Interview mit dem „Handelsblatt“ macht der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) deutlich, dass mit einem Abwärtstrend bei der Staatsquote anders als noch in den 1990ern auf absehbare Zeit nicht zu rechnen sei.
Im Unterschied zu damals gehe auch kein nennenswerter Druck in diese Richtung von gesellschaftlichen Akteuren aus: Krisenzeiten, so der Wirtschaftsforscher, seien „politisch verführerisch“.
Hans-Werner Sinn beklagt Wettbewerb der Begehrlichkeiten
Viele gut organisierte Gruppen im Inland als auch schuldengeplagte Staaten im Süden Europas nutzten die Krise, um unter dem Banner der Corona-Hilfe an Mittel zu gelangen, die ihnen sonst nicht zugestanden worden wären. Man müsse, so Sinn, „nur Corona rufen, und schon fließen die Milliarden“. Auch wenn Solidarität und Hilfe geboten seien, drohe die Politik das Maß zu verlieren.
Gegenüber dem Handelsblatt äußert der ifo-Chef:
Renten, Sozialleistungen, strukturerhaltende Subventionen: Jeder meldet sich, und wer am lautesten ruft, bekommt das Staatsgeld.“
Der Wirtschaftsforscher räumt ein, dass es angebracht sei, Firmen zu Hilfe zu kommen, „deren Geschäftsmodell durch den Lockdown lädiert wird“.
Ifo-Chef: „Wir scheinen die Kontrolle zu verlieren“
Sinn hält hingegen Konjunkturprogramme auch in der derzeitigen Situation für einen Irrweg. Sie bewirkten eine Stärkung von Akteuren, die ohnehin schon die großen Gewinner der Krise seien – wie etwa Amazon. Auf der anderen Seite würden die Programme Gefahren wie Zombieunternehmen oder die Rückkehr der Inflation mit sich bringen.
Dass diese nicht längst schon wieder ihr Haupt erhebe, sei einzig dem Umstand geschuldet, dass die Banken der Situation nicht trauten und das Geld, das ihnen dank der Politik der Notenbanken im Überfluss zur Verfügung stehe, zu horten – was eine Liquiditätsfalle bewirke.
Der ifo-Chef will auch keinen Zweckoptimismus zum Ausdruck bringen, sondern warnt:
Wir scheinen die Kontrolle darüber zu verlieren, was sich gerade abspielt.“
EZB macht Euro zu Transfersystem
Sinn begründet seine Zweifel nicht nur mit dem Umfang der Programme – so spricht das Bundesfinanzministerium selbst von haushaltswirksamen Programmen im Volumen von 500 Milliarden Euro und Garantien in Höhe von 800 Milliarden Euro.
Zudem hoffe die Politik, aus den Schuldenbergen wieder herauswachsen zu können. Dies wäre unter Umständen im Fall Deutschlands sogar möglich, die südeuropäischen Staaten hätten bis dato jedoch keine erkennbaren Initiativen erkennen lassen, ihrer Verschuldung auch nur im Ansatz gegenzusteuern.
Vielmehr vertraue man darauf, dass der Euro zunehmend in ein Transfersystem umgewandelt werde – und die EZB sorge mit ihrer Geldmengenpolitik und den Aufkäufen von Staatsanleihen dafür, dass dies auch geschehe.
Sinn nennt dazu auch Zahlen:
Mit allen Programmen der EZB wird das Zentralbankgeld, also die Geldmenge, die die Notenbank selber schafft durch die Kreditvergabe an die Banken oder Wertpapierkäufe, bis zum Sommer 2021 etwa sechs Billionen Euro betragen, und eine weitere Erhöhung ist schon beschlossen.“
Bundesbank stimmt in Kritik ein
Auch aus der Bundesbank regt sich Argwohn. In ihrem Monatsbericht für Dezember, den Steingart in seinem Briefing anspricht, wird die Sorge artikuliert, dass der Corona-bedingte Wirtschaftseinbruch die Zahl der insolventen Unternehmen deutlich erhöhen werde.
Stützungsmaßnahmen oder flankierende Schritte wie die Aussetzung von Insolvenzantragspflichten dürften zu keiner „Zombifizierung“ der Wirtschaft führen. Es müsse „vermieden werden, dass sich unrentable Geschäftsmodelle im Markt halten und dass Ressourcen gesamtwirtschaftlich ineffizient eingesetzt werden“.
Außerdem sollten die staatlichen Hilfsmaßnahmen unmittelbar mit Wegfall ihrer Corona-bedingten Notwendigkeit enden.
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