Habeck und Lindner für Aufarbeitung der Corona-Politik
„Es wurden durch die Entscheidungen Leben gerettet, aber gerade für Kinder und Jugendliche war es auch eine Zeit der großen Einsamkeit“, sagte Habeck der „Bild“ (Mittwochausgabe). „Ich denke, wir sollten den Mut haben, die Lehren ziehen, Abläufe überprüfen, die Auswirkungen evaluieren. Kein Blame Game, aber aus Erfahrung lernen – das ist die Devise.“
Habeck beruft sich in seiner Argumentation auf ein Zitat des damaligen Gesundheitsministers der Großen Koalition. „Jens Spahn hat mal gesagt, wir werden uns viel zu verzeihen haben“, so der Grünen-Politiker. „Wir sollten jetzt eine Phase einleiten, in der wir über die schwere Pandemie-Zeit mit all ihren Auswirkungen noch mal nachdenken.“
Habeck erkennt dabei ausdrücklich die schwierige Lage an, in der sich die Großen Koalition während der Politik befand. Diese habe „in einer nie gekannten Situation auf schwankendem Boden schnell tiefgreifende Entscheidungen treffen“ müssen. „Sicherlich sind da auch Fehler passiert, aber genauso wäre es ein Fehler gewesen, nicht zu entscheiden.“
FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner will Lehren aus der Pandemie ziehen. „Wir müssen die Pandemie aufarbeiten, um die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen zu können“, sagte Lindner dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Mittwochausgabe). „Heute wissen wir, dass viele Entscheidungen der früheren Bundesregierung großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden angerichtet haben“, sagte er. „Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Zutrittsverbote waren zum Teil absolut unverhältnismäßige Eingriffe in die Freiheitsrechte“, kritisierte der FDP-Politiker.
Der Bundesfinanzminister begrüßte, dass nun neue Bewegung in die Frage der Aufarbeitung komme. „Die FDP setzt sich dafür ein, dass sich eine Enquete-Kommission des Bundestags mit der Aufarbeitung der Pandemie befasst“, sagte Lindner. In die Arbeit dieses Gremiums könnten auch Experten direkt eingebunden werden. „Deswegen ist eine Enquete-Kommission das Mittel der Wahl“, so Lindner. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss könnte „zur parteipolitischen Profilierung missbraucht“ werden, sagte Lindner. Auch einer Enquete-Kommission gehören – neben Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis – Abgeordnete an.
„Mir geht es aber nicht darum, Entscheider anzuklagen“, sagte Lindner. „Eine transparente Aufarbeitung könnte Verschwörungstheoretikern und Querdenkern den Wind aus den Segeln nehmen. Ich nehme wahr, dass die Union, die sich bislang gegen eine Aufarbeitung gesperrt hat, über eine Kurskorrektur nachdenkt.“
Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), hat sich ebenfalls für eine Aufarbeitung ausgesprochen. „Ich halte eine Aufarbeitung – in welcher Form auch immer – für wichtig, um für die Zukunft zu lernen und auch, um den Riss zu kitten, der zwischen Befürwortern und Gegnern der Corona-Maßnahmen entstanden ist“, sagte Dreyer dem Nachrichtenportal „T-Online“ am Dienstag.
Die SPD-Politikerin verwies zudem auf die extreme Ausnahmesituation, in der damals die politischen Verantwortlichen ihre Entscheidungen trafen. „Politik und Gesellschaft standen während der Corona-Pandemie vor nie da gewesenen existentiellen Fragen um Leben und Tod“, so Dreyer. Den Regierungen von Bund und Ländern sei wichtig gewesen, „auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse Entscheidungen zu treffen“.
Mehrere Grünen-Abgeordnete im Bundestag sprechen sich ebenso sich für eine Aufarbeitung von Fehlern aus. „Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre es gut, wenn es mit etwas Abstand eine Aufarbeitung der Corona-Politik gäbe“, sagte der rechtspolitische Sprecher der Fraktion, Helge Limburg der „Welt“ (Mittwochausgabe). „Das kann eine Enquete-Kommission sein, eine Expertenkommission oder eine andere Form der Auseinandersetzung, die den Menschen signalisiert: Wir wischen die einschneidenden Maßnahmen von damals nicht einfach zur Seite.“
Die Folgen der Pandemie-Politik seien für Kinder und Jugendliche „ganz konkret spürbar“, sagte Limburg weiter. „Es gibt psychische Probleme, die weit über das normale Maß hinausgehen.“ Er werde von Ungeimpften angesprochen, die sagten, sie hätten nicht vergessen, wie sie behandelt worden seien. Leute, die Angehörige in der Pandemie verloren haben, würden berichten, wie schlimm die Einschränkungen beim Trauern gewesen seien. „Das ist eine Wunde, die bleibt.“ Es brauche eine Aufarbeitung, die zeige: „Manchen Menschen ist in der Pandemie verbal oder tatsächlich Unrecht geschehen.“
Die Gesundheits- und Haushaltspolitikerin Paula Piechotta (Grüne) hält eine Aufarbeitung für überfällig. „Die Pandemie und die Energiekrise sind vorbei, aber die nächsten Krisen stehen schon vor unserer Tür“, sagte sie der „Welt“ (Mittwochausgabe). „Deswegen ist es nun, fast genau vier Jahre nach Beginn der ersten Pandemie-Maßnahmen in Deutschland, überfällig, die Fehler der Pandemie-Politik in den unterschiedlichsten Bereichen von Gesundheits- über Bildungs- bis Finanzpolitik für alle transparent und zeitnah aufzuarbeiten.“ Interdisziplinäre Sachverständigenräte sollten den Ausschüssen des Bundestags bis zum Herbst zum jeweiligen Themenfeld Lehren in Berichtsform zukommen lassen, die die Ausschüsse dann debattieren können, schlug Piechotta vor.
Aus der Grünen-Fraktion im Bundestag fordern zudem Corinna Rüffer, Expertin für Behindertenpolitik, Rechtspolitikerin Manuela Rottmann, Dieter Janecek, Koordinator der Bundesregierung für Maritime Wirtschaft und Tourismus, und Tabea Rößner, Vorsitzende des Ausschusses für Digitales, eine Aufarbeitung.
Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Janosch Dahmen, lehnt das Instrument einer Enquete-Kommission bislang ab. „Eine Enquete-Kommission oder gar ein Untersuchungsausschuss wäre jetzt das falsche Instrument und würde vor allem für parteipolitische Profilierung missbraucht werden“, sagte er dem Nachrichtenportal „T-Online“. Das helfe niemandem.
Solche Gremien würden von jenen besonders laut gefordert, „die sich erkennbar über die andauernde, unabhängige, wissenschaftliche Aufarbeitung hinwegsetzen wollen, um mit populistischen Parolen politische Duftmarken zu setzen“, kritisierte Dahmen. „Als Arzt und Politiker finde ich es vor dem Hintergrund der unzähligen Opfer falsch, die Aufarbeitung der Pandemie nun für die anstehenden Wahlkämpfe instrumentalisieren zu wollen.“
Die FDP-Fraktion bevorzugt das Instrument einer Enquete-Kommission. „Wir sollten die Fehler ebenso wie die richtigen Entscheidungen während der Corona-Pandemie reflektieren und aus diesen lernen“, sagte Johannes Vogel, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, dem „Spiegel“.
Erforderlich sei eine Kommission zur Aufarbeitung von Pandemie, Maßnahmen, Freiheits- und Grundrechtseinschränkungen sowie gesellschaftlicher Folgen. „Hierfür eignet sich eine Enquetekommission im Deutschen Bundestag besonders gut“, so Vogel. Er fordert, diese „zeitnah“ einzusetzen, um mit ausreichend Vorlauf vor dem Ende der Legislaturperiode mit dieser Aufarbeitung zu beginnen.
Auch Linken-Politiker Gregor Gysi sprach sich für eine Enquete-Kommission aus. „Diese Enquete-Kommission muss klären, welche Maßnahmen richtig und notwendig waren, welche bei einem ähnlichen Fall nicht wiederholt werden dürfen und ob es wesentlich weniger beeinträchtigende Alternativen zu den getroffenen Entscheidungen gibt“, sagte Gysi dem Nachrichtenportal „T-online“ am Dienstag. Als Beispiele nannte Gysi jene Maßnahmen, die zu Schulausfall und zur Isolierung von Kindern geführt hätten, sowie generelle Fragen einer Impfpflicht.
„Die Enquete-Kommission hätte viel zu tun“, so Gysi weiter. Der Bundestag sei verpflichtet, all dies aufzuarbeiten und der Bevölkerung entsprechende Auskünfte zu erteilen. Von der Unionsspitze im Bundestag habe es im Herbst auf einen entsprechenden Linken-Vorschlag geheißen, man sei für eine Enquete-Kommission in der nächsten Legislaturperiode. „Wir werden darauf auf jeden Fall zurückkommen.“ (dts)
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