Grass und die Genossen: Eine kritische Solidarität
Angela Merkel habe in der DDR und nach der Wende eine „doppelte, gesamtdeutsche Ausbildung“ erfahren, stichelte der Literaturnobelpreisträger. „In der FDJ-Zeit hat sie Anpassung und Opportunität gelernt, bei Kohl natürlich den Umgang mit Macht“, so der langjährige SPD-Wahlkämpfer.
Die Union reagierte erzürnt. Mit Blick auf die lange unbekannte Mitgliedschaft in der Waffen-SS meinte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt damals: „Herr Grass sollte lieber seine eigene Vergangenheit in den Blick nehmen als die der Bundeskanzlerin.“
Eigentlich sollte es nur um die Vorstellung des 1230 Seiten langen Buches „Willy Brandt und Günter Grass: Der Briefwechsel“ gehen, das er im Anschluss bei reichlich Rotwein mit Widmungen signierte. Aber so war Grass halt: Immer politisch, immer direkt, gerne kontrovers.
Die SPD erreichte die Todesnachricht am Montag mitten in der Sitzung des Präsidiums. Eine Stunde später erklärte der Vorsitzende Sigmar Gabriel: „Die SPD verneigt sich vor Günter Grass.“ Er sei zum „Spiritus Rector“ der Verbindung zwischen SPD und Intellektuellen geworden, die das geistige Klima in Deutschland nachhaltig geprägt und zu den Wahlsiegen von 1969 und 1972 beigetragen habe. Seine oft streitbaren Einwürfe hätten die politische Kultur in Deutschland bunter gemacht und das Verhältnis von Politik und Kultur gewandelt.
Über Jahrzehnte hatten vor allem Brandt und Grass einen kritischen und offenen Austausch gepflegt. 1969 tourte Grass 32 000 Kilometer mit einem VW-Bus durch Deutschland, um für „Willy“ zu werben. Am Steuer saß Friedel Drautzburg, damals Student, heute Besitzer der berühmten Kölsch-Kneipe „Ständige Vertretung“ im Regierungsviertel. Er ist bis heute häufig als Gast bei SPD-Veranstaltungen anzutreffen.
Als bei einer Straßenveranstaltung jemand „Willy Brandt an die Wand“, schrie, fackelte Grass nicht lange: „Dem bin ich dann an die Jacke gegangen.“ Seit 1961 unterstützte er die SPD. Zu Tumulten kam es im Wahlkampf 1965 im konservativen Cloppenburg. Unter die rund 4000 Zuhörer hatten sich Mitglieder der Jungen Union gemischt, die Grass niederschrien, auspfiffen und als „Onanisten-Herold“ beschimpften. Eier flogen, nur unter Polizeischutz konnte Grass seine Rede halten.
Im erfolgreichen 1969er-Wahlkampf wurde Grass zur Führungsfigur der neuen „Sozialdemokratischen Wählerinitiative“ – Intellektuelle und andere einflussreiche Bürger ergriffen Partei. Ein Modell, das die SPD bis heute pflegt, das aber an Strahlkraft verloren hat. „Ohne die Wählerinitiative wäre die Wahl nicht zu gewinnen gewesen“, meinte Grass im Nachgang ganz unbescheiden. Mitglied war er aber nur von 1982 bis 1993, er trat wegen Ärger über die Asylpolitik wieder aus.
Den Lübecker verband bis zuletzt eine kritische Solidarität mit der Partei, und die Partei mit ihm. Auch wenn die Distanz zuletzt größer geworden war, was auch an Grass‘ Interventionen lag. Vor allem sein Israel-kritisches Gedicht („Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“) brachte ihm parteiübergreifend Kritik ein. „Er riss Wunden auf, alte und neue. Doch letztlich bewegten seine Worte die Menschen“, bilanziert Linken-Fraktionschef Gregor Gysi.
Nach dem Israel-Gedicht wurde in der SPD offen die Frage gestellt, ob man seine Hilfe noch wolle. Kein Vergleich zu 2005, als er vor 15 000 Menschen bei Gerhard Schröders Abschlusskundgebung auf dem Berliner Gendarmenmarkt redete. Von einem linken Genossen war Grass besonders enttäuscht, von dem 1999 zurückgetretenen SPD-Chef Oskar Lafontaine. „Halt’s Maul! Trink deinen Rotwein, fahr in die Ferien, such dir eine sinnvolle Beschäftigung“, gab Grass ihm mit auf den Weg. Später sah er ihn als Blockierer einer rot-rot-grünen Koalition und warf ihm wegen der Etablierung der Linkspartei Charakterlosigkeit vor.
Seine große Sorge galt in den letzten Jahren der Dominanz von Banken und Konzernen. „Wir erleben, dass das System, in dem wir leben, das kapitalistische, sich in einem Zustand der Selbstzerstörung befindet“, sagte Grass zum Beispiel im Herbst 2011 im Brandt-Haus. „Die SPD sollte ihrer Tradition folgen und sich zum Sprecher einer solch grundlegenden Veränderung machen“, forderte er damals mehr Mut zu neuen Wegen. Und ließ Sehnsucht nach Willy Brandt erkennen: „Mir fehlen hier die entscheidenden Worte aus der politischen Richtung, die ich noch so lange unterstützen möchte, wie ich rauchen kann.“
(dpa)
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