Gespräche über eigenständigere EU starten – „Starke Alliierte bilden starke Allianzen“
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten haben nach den jüngsten außenpolitischen Alleingängen der USA eine Debatte über mehr europäische Eigenständigkeit in der Welt begonnen.
Die Diskussion sei vor allem nach den geopolitischen Entwicklungen in Afghanistan und im Indopazifik sowie mit Blick auf die Beziehungen zu China wichtig, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel zum Auftakt der vertraulichen Gespräche im Schloss Brdo in Slowenien.
EU will Abhängigkeiten verringern
Die Debatte soll in den kommenden Wochen und Monaten fortgesetzt werden und möglichst schnell zu handfesten Ergebnissen führen. Dabei soll es nicht nur um mehr Unabhängigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen gehen, sondern auch um mehr Autonomie etwa in der Digital- und Gesundheitspolitik. So könnte die EU versuchen, ihre Abhängigkeiten bei der Produktion von Arzneimitteln und der Speicherung umfangreicher Datensätze deutlich zu verringern.
Der französische Präsident Emmanuel Macron betonte, man müsse bei Fragen der Technologie, der Industrie, der Wirtschaft, der Finanzen und auch des Militärs die Grundlage für ein stärkeres Europa schaffen. Die EU müsse ihren Teil der Verantwortung tragen, ihre Partner selbst wählen und zugleich eng mit bestehenden Alliierten zusammenarbeiten.
Ratschef Michel sagte, die Nato sei ein Grundpfeiler für die Sicherheit in Europa, zugleich sei es nun aber wichtig, zu sehen, wie man im Rahmen der bestehenden Partnerschaften autonomer agieren könne. Es gehe auch darum, diese zu stärken. „Starke Alliierte bilden starke Allianzen“, erklärte Michel. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich zunächst nicht.
Entsetzen über Indopazifik-Pakt
In der EU hatte es zuletzt Entsetzen darüber gegeben, dass die USA in den vergangenen Monaten hinter dem Rücken der EU mit Großbritannien und Australien einen Sicherheitspakt für den Indopazifik ausgehandelt hatten. Insbesondere die Regierung in Paris ist außer sich, weil mit dem Aukus genannten Pakt ein 56 Milliarden Euro schwerer U-Boot-Vertrag Australiens mit Frankreich geplatzt ist.
Zudem wird Washington mit Blick auf den Abzug aus Afghanistan mangelnde Rücksicht auf Interessen der EU-Partner vorgeworfen. Hinzu kommt eine teils große Skepsis gegenüber dem konfrontativen Kurs der USA gegen China und den Versuchen, die EU ins Boot zu holen.
Das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs wurde in Slowenien organisiert, weil das Land derzeit die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat. An diesem Mittwoch beginnt am selben Tagungsort ein Gipfeltreffen mit den Westbalkanstaaten. Bei ihm werden die EU-Beitrittsperspektiven von Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und dem Kosovo ein Thema sein.
Kompromiss bei Erweiterungspolitik
Vor dem Gipfel einigten sich die EU-Staaten nach hartem Ringen auf einen Kompromiss im Umgang mit den EU-Beitrittshoffnungen der sechs Länder. So soll nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bei dem EU-Westbalkan-Gipfel schriftlich festgehalten werden, dass sich die Europäische Union weiter zu dem begonnenen Erweiterungsprozess bekennt. Zugleich soll betont werden, dass die Fähigkeit zur Integration neuer Mitglieder in die EU auch eine Weiterentwicklung der Union selbst voraussetzt.
Mit dem Zusatz will sich nach Angaben von Diplomaten vor allem die Regierung in Paris die Möglichkeit offenhalten, die Aufnahme neuer Mitglieder zu blockieren, wenn sich die EU in den kommenden Jahren aus französischer Sicht als nicht reformfähig erweisen sollte. Die Beitrittsaspiranten haben damit weiter keine absolute Klarheit über ihre Chancen auf einen EU-Beitritt.
Entscheidung zu sechs Balkan-Staaten
Über den Kurs der EU bei dem Westbalkan-Gipfel war bis Montag tagelang hinter verschlossenen Türen gerungen worden. So forderte Gipfelgastgeber Slowenien laut Diplomaten zuletzt nicht nur ein Bekenntnis zum Erweiterungsprozess, sondern auch, den Westbalkanstaaten eine Aufnahme bis 2030 in Aussicht zu stellen. Andere Staaten wie Frankreich lehnten dies hingegen vehement ab. Sie argumentieren, dass die meisten Westbalkan-Staaten aller Voraussicht nach bis dahin nicht in der Lagen seien, die notwendigen Reformen so schnell umzusetzen.
Zudem hält vor allem Paris die Europäische Union wegen ungelöster Probleme in den eigenen Reihen für derzeit nicht erweiterungsfähig. So wird beispielsweise befürchtet, dass eine Erweiterung um sechs weitere Länder die schon jetzt oft sehr zeitraubenden Entscheidungsprozesse noch schwieriger machen könnte.
Länder wie Deutschland argumentieren hingegen, dass es erhebliche Risiken berge, die Hoffnungen der Beitrittsaspiranten zu enttäuschen. Sie verweisen darauf, dass die Balkanstaaten auch von Ländern wie Russland, China und der Türkei umworben werden. Enttäuschte Hoffnungen beim Ausbau der Beziehungen zur EU könnten deswegen dazu führen, dass von den EU-Staaten eingeforderte Reformen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vernachlässigt werden.
Als besonders heikel gilt, dass die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien bereits seit rund einem Jahr von Bulgarien aus innenpolitischen Gründen blockiert wird – und das obwohl eigentlich bereits im März 2020 ein klarer EU-Beschluss für den Start von Verhandlungen getroffen wurde. (dpa/oz)
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