Gesetzesreform gekippt – Freigesprochene dürfen nicht erneut angeklagt werden

Neue Beweise sind kein Grund, ein zweites Verfahren einzuleiten. Der Mord an einer 17-Jährigen im Jahre 1981 bleibt nun möglicherweise ungesühnt.
Das Bundesverfassungsgericht befasst sich ab heute mit einer Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag.
Freispruch bleibt Freispruch – das Bundesverfassungsgericht kippte eine Gesetzreform, die die erneute Anklage eines Verdächtigen ermöglicht hätte.Foto: Uli Deck/dpa
Von 2. November 2023

Fast auf den Tag genau 42 Jahre ist es her, dass die damals 17-jährige Frederike von Möhlmann am 4. November 1981 in einem Wald im Landkreis Celle vergewaltigt und erstochen wurde. Einen möglichen Täter ermittelten die Fahnder. Ismet H. verurteilten die Richter des Landgerichts Lüneburg aufgrund von Indizien am 1. Juli 1982 zu lebenslanger Haft. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil jedoch auf und verwies den Fall an das Landgericht Stade, das Ismet H. am 13. Mai 1983 freisprach.

Neue Beweise aufgrund technischer Weiterentwicklung

Dann tauchten neue Beweise gegen H. auf, die belegen könnten, dass er doch der Mörder der jungen Frau ist. DNA-Untersuchungen im Jahr 2012 erhärteten den Verdacht. Die seinerzeit gefundenen Spermaspuren konnten dem einst Angeklagten erst viele Jahre später nachgewiesen werden, da 1981 die technischen Möglichkeiten noch fehlten.

Doch eine zweite Anklage zum selben Tatvorwurf ist nach deutschem Recht nicht möglich. Das verbietet § 103 Abs. 3 des Grundgesetzes. Um es in Einzelfällen dennoch zu ermöglichen, trat im Dezember 2021 § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPo) in Kraft. Somit konnte das Verfahren gegen Ismet H. im Februar 2022 wieder aufgenommen werden. Das Landgericht Verden erklärte die Wiederaufnahme für zulässig, der mittlerweile 64-jährige H. kam in Untersuchungshaft.

Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot

Seine Beschwerde gegen die Wiederaufnahme wies das Oberlandesgericht (OLG) Celle zurück. Der Mann zog vor das Bundesverfassungsgericht – nun mit Erfolg. Die Karlsruher Richter erklärten, dass § 362 Nr. 5 StPo gegen das Mehrfachverfolgungsverbot sowie gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verstoße.

Dieses grundrechtsgleiche Recht verbiete dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

Vor Inkrafttreten des Gesetzes war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen. Das erlaubte die Rechtsprechung, etwa im Falle eines Geständnisses.

Seit der Gesetzesreform ging das auch, wenn „neue Tatsachen oder Beweismittel“ auftauchen, schreibt die „Welt“.  Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen beschränkt. Diese Taten verjähren nicht.

CDU kritisiert Karlsruher Urteil

Das jetzt gekippte Gesetz verabschiedete seinerzeit noch die Große Koalition. So gab es aus der ehemaligen Regierungspartei CDU Kritik am Urteil: „Die […]  Entscheidung ist bitter für die Angehörigen von Mordopfern“, sagte der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Günter Krings.

„Ich hätte mir gewünscht, dass das Gericht die Belange der Familien der Opfer und der Allgemeinheit stärker gewichtet hätte.“ Es sei zu befürchten, dass die Entscheidung auch negative Auswirkungen auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen haben werde.

Die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Katrin Helling-Plahr, reagierte hingegen positiv: „Die Neuregelung der Großen Koalition missachtet den verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass durch ein rechtskräftig gesprochenes Urteil Rechtsfriede geschaffen wird“, sagte sie. „Eine Reform, die eine praktisch endlose erneute Verfolgung eines Freigesprochenen auf Grundlage neuer Beweise ermöglicht, ist mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar. Als Gesetzgeber sind wir gut beraten, wenn wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts achten und Versuchungen, tragende Prinzipien unseres Rechtsstaats auszuhöhlen, künftig widerstehen.“

Dass irgendwann Rechtsfrieden einkehren müsse, sei auch für diejenigen wichtig, die unschuldig im Fokus stehen, führte Helling-Plahr weiter aus. „Es darf nicht sein, dass sich Unschuldige lebenslänglich absichern müssen und lebenslänglich verfolgt werden können.“

Steinmeier schlug erneute Prüfung des Gesetzentwurfs vor

Beim Ausfertigen des Gesetzes hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) seinerzeit vorgeschlagen, dieses wegen verfassungsrechtlicher Zweifel „einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen“. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach sich nach dem Regierungswechsel im Bund auch dafür aus, es noch einmal unter die Lupe zu nehmen, da sonst jeder Freispruch unter Vorbehalt stünde.

Der Prozess gegen Ismet H. vor dem Landgericht Verden hatten die Karlsruher Richter gestoppt. Der Mann wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Im Sommer verlängerte das Verfassungsgericht die Außervollzugsetzung des Haftbefehls und kassierte die Auflagen. Unter anderem hatte der Mann sich zweimal wöchentlich bei der Staatsanwaltschaft melden müssen und durfte seinen Wohnort nicht ohne Erlaubnis verlassen.

Petition mit 180.000 Unterschriften für Gesetzesreform

Bei der mündlichen Verhandlung im Mai 2023 hatte Frederikes Schwester über ihren Anwalt emotionale Worte an den Zweiten Senat gerichtet: „Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte“, sagte der ehemalige Bundesanwalt Wolfram Schädler im Namen seiner Mandantin.

Jahrelang hatte Frederikes Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180.000 Menschen unterschrieben hatten. Der Kampf sei mit dem Tod ihres Vaters im Juni 2022  nicht vorbei, ließ Frederikes Schwester vortragen. Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger. Die Familie hoffe auf Ruhe.



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