Asyl-Gutachten: Ex-Verfassungsrichter Di Fabio liest Merkel staatsrechtlich die Leviten (Auszüge und Download)
Das Erdbeben in den Kreisen der Politiker breitet sich noch unter der Oberfläche aus, aber ebenso wie es in der Bevölkerung unterirdisch brodelt, weil der Zustrom von Migranten kaum noch zu bewältigen ist, so kann das Gutachten von Prof. Dr. Udo di Fabio über die Pflichten der Bundesregierung zu diesem Thema niemanden in politischer Verantwortung wirklich kalt lassen.
Kein Wunder, dass sich Gerüchte über einen bevorstehenden Rücktritt der Kanzlerin und explizite Forderungen danach national und international verdichten. Aber wer auch immer regiert, es muss eine vernünftige und rechtsstaatliche Lösung gefunden werden.
„Aber gleich wie man Grenzen der Aufnahmefähigkeit definiert und rechtliche Auswahlverfahren wählt: Ohne Grenzen und Begrenzbarkeit entfällt eine zentrale Voraussetzung des offenen Verfassungsstaates, ein funktionell beherrschbarer Personenverband zu sein, schon um seine Schutz- und Ordnungsfunktion berechenbar zu gewährleisten. Niemand kommt um diesen dialektischen Widerspruch zwischen Öffnung und Begrenzung herum, weder theoretisch noch faktisch.“
Der dies am 14. September 2015 in der FAZ als Gastautor schrieb, war kein Geringerer als der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Udo di Fabio, qua Erfahrung als ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht mit respektablem Renommee ausgestattet, geeignet wie kein andrer, salopp ausgedrückt, der Bundeskanzlerin die juristischen Leviten zu lesen.
Wen wundert es, dass der bayerische Ministerpräsident ihn auswählte, ein Gutachten zu erstellen, das folgendem Vorwurf nachgeht:
Der Vorwurf
„Der Vorwurf richtet sich darauf, die Bundesregierung habe Anfang September 2015 das Signal ausgesendet, dass Deutschland auch außerhalb seiner Rechtspflichten und ohne Rücksicht auf Kapazitätsgrenzen humanitären Schutz gewähre. Gleichzeitig – so der Vorhalt – habe der Bund seine Verantwortung für die kontrollierte Einreise nicht hinreichend wahrgenommen und dadurch insgesamt, in einer ohnehin bestehenden Krise, als Attraktor, als ein Magnet für Wanderungsbewegungen und begünstigend für organisierte Schleuserkriminalität gewirkt.“
Gutachten als PDF-Download
Wir haben aus dem öffentlich zugänglichen 125-seitigen Gutachten uns wesentlich und allgemein verständlich erscheinende Abschnitte ausgewählt, um den rechtlichen Rahmen deutlich zu machen, in dem sich die Fragestellung und ihre Beantwortung bewegt. Wir haben lediglich für leichtere Lesbarkeit innerhalb der Texte Absätze geschaltet.
Zu der Fragestellung im ersten Teil des Gutachtens:
„Es ist umstritten, ob die nach einer Kontaktaufnahme mit dem österreichischen Regierungschef Faymann von der deutschen Bundeskanzlerin am 4. September 2015 konzedierte Übernahme von Ungarn über Österreich nach Deutschland kommender Einreisewilliger eine humanitär notwendige Maßnahme oder eine grobe, bis heute andauernde Missachtung gesetzlicher Vorschriften durch ein an Recht und Gesetz gebundenes Verfassungsorgan war.
Für anerkannte Staatsrechtslehrer wie Wolfgang Durner oder Martin Nettesheim ist die Ankündigung der Bundeskanzlerin, Flüchtlinge könnten künftig direkt in Deutschland Asyl beantragen, unvereinbar mit § 18 Asylgesetz (AsylG), der die Einreise von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten weiterhin für unzulässig erklärt.
Nettesheim vertritt die Ansicht, die „Entscheidung über Staatsgrenzen“ sei von so grundsätzlicher und wesentlicher Natur, dass sie vom Gesetzgeber getroffen werden müsse. Wenn das System einer Verlagerung von Grenzfunktionen auf die Außengrenzen von EU -Partnerstaaten zusammenbricht, bedürfe es jedenfalls einer gesetzgeberischen Entscheidung darüber, ob diese Funktionen wieder an der deutschen Grenze wahrgenommen werden.
Durner fragt pointiert, ob Bundesrecht neuerdings durch Kanzlerwort geändert werden könne.“
„Es gehört zu einer der großen positiven Überraschungen in der Geschichte der Bundesrepublik, wie bereitwillig und zivilgesellschaftlich vorbildlich Bürgerinnen und Bürger des Landes sich engagieren, um zu helfen und Notfallversorgung sicherzustellen.
Doch kann sich die Verwaltung von Ländern und Kommunen auf diese freiwillige Hilfe nicht dauerhaft und sogar in zunehmenden Maße stützen, schon weil die Verantwortung für die Einhaltung des Rechts der öffentlichen Verwaltung in spezifischer Weise auferlegt ist und vor allem für Fachleute sichtbar ist, wo Kapazitäten und Möglichkeiten erschöpft sein werden, wenn der Zustrom anhält oder nach einem vorübergehenden Rückgang wieder an Stärke gewinnt.
Die Ressourcen der Verwaltung sind auf das Äußerste angespannt. Bleibt es bei der gemessen an verfassungsrechtlichen, unionsrechtlichen und völkerrechtlichen Vorgaben letztlich ungesteuerten Zahl an Grenzübertritten, so wird die Eigenstaatlichkeit der Länder bedroht bis hinein in Kernaufgaben wie die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit.“
Die Gutachtenfrage
„Der Freistaat Bayern fragt, welche verfassungsrechtlichen Pflichten dem Bund gegenüber den Ländern zur Begrenzung des massenhaften und unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen obliegen, insbesondere im Hinblick auf einen wirksamen Schutz der Grenzen. Zudem soll geklärt werden, welche Möglichkeiten Bayern offenstehen, diese Pflichten gegebenenfalls im Wege einer Verfassungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht durchzusetzen.“
Ab S 116 die Antwort als Zusammenfassung in 12 Thesen (Auszug):
6. „Der Bund ist aus verfassungsrechtlichen Gründen im Sinne der demokratischen Wesentlichkeitsrechtsprechung nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG verpflichtet, wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist.“
7. „Das Grundgesetz garantiert jedem Menschen, der sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befindet und ihrer Herrschaftsgewalt unterworfen ist, eine menschenwürdige Behandlung (Art. 1 Abs. 1 GG).
Das Grundgesetz garantiert jedoch nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich. Entsprechende unbegrenzte Verpflichtungen dürfte der Bund auch nicht eingehen.
Eine universell verbürgte und unbegrenzte Schutzpflicht würde die Institution demokratischer Selbstbestimmung und letztlich auch das völkerrechtliche System sprengen, dessen Fähigkeit, den Frieden zu sichern, von territorial abgrenzbaren und handlungsfähigen Staaten abhängt.“
8. „Art. 16 a GG gewährt Asyl bei politischer Verfolgung, soweit nicht die Einreise über einen sicheren Drittstaat erfolgt. Darin liegt nach dem Asylkompromiss eine Verfassungsentscheidung für den Ausgleich eines Individualrechts mit Stabilitäts- und Leistungserfordernissen des demokratischen Gemeinwesens.“
10. „[…] Die Europäische Menschenrechtskovention begründet kein Menschenrecht auf ungehinderte Einreise in einen Konventionsstaat und sieht keine unbegrenzte Pflicht zur Aufnahme von Vertriebenen oder heimatlos gewordenen Menschen vor.“
11. „Bundesgesetzgeber, die Bundesverwaltung und die Rechtsprechung haben zur Gewährleistung kontrollierter Einreise in das Bundesgebiet eine systematisch folgerichtige Entscheidung zu treffen:
Entweder es bleibt beim (quantitativ unbegrenzten) individuellen Recht auf Asyl bei dann auch individueller Prüfung einer drohenden politischen Verfolgung sowie der Einschränkung des Asylrechts beim Weg über sichere Drittstaaten oder aber es gilt der weite Flüchtlingsbegriff, der von der europäischen Staatenpraxis und vom Handbuch des UNHCR zugrunde gelegt wird, der aber dann klare Kontingentierung, wirksame Verteilungsmechanismen und die Formulierung sowie Durchsetzung von Kapazitätsgrenzen erfordert.“
12. „Es liegt innerhalb eines nur begrenzt justiziablen politischen Gestaltungsermessens des Bundes, was getan werden muss, um ein gemeinsames europäisches Einwanderungs- und Asylrecht wiederherzustellen oder neu zu justieren. Zurzeit deutet einiges darauf hin, dass das Mindestmaß an politischen Aktivitäten durch den Bund diesbezüglich noch unterschritten ist.
Sollte die Migrationskrise nicht mit wirksamen europäischen Maßnahmen rechtsgestaltender oder gerichtlicher Art (Vertragsverletzungsverfahren) bewältigt werden, muss der Bund zur Wahrung der verfassungsstaatlichen Ordnung und zum Schutz des föderalen Gefüges zumindest einstweilen die gesetzmäßige Sicherung der Bundesgrenze gewährleisten, weil die Kontrolle über Elemente der Staatlichkeit im Sinne des Identitätsvorbehalts der Rechtsprechung des BVerfG integrationsfest ist.“
Was nun? Allen Politikern ins Gesangbuch geschrieben:
(Seite 105 des Gutachtens) „Gerade weil die Schutzverantwortung für Menschen auf dem Bundesgebiet von den Bürgern der Republik letztlich eingelöst werden muss, ist zwar eine Politik der humanitären Großzügigkeit jederzeit im Rahmen der dafür notwendigen gesetzlichen Ausgestaltung verfassungsrechtlich möglich, aber eben nur nach definierten und verantwortbaren Maßstäben, deren Einhaltung dann sowohl rechtlich möglich als auch dem Grunde nach praktisch durchsetzbar ist. Eine gesetzliche Ermächtigung hätte deshalb sowohl den Anwendungsvorrang des Unionsrechts als auch existenzielle Voraussetzungen jeder verfassten Gemeinschaft zu wahren.“
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