Gehälter, Vermögen, politische Einstellungen: Die wachsende Kluft zwischen Ost und West

Vor über 30 Jahren wurden Ost- und Westdeutschland vereint, aber die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Unterschiede halten an. Die Kluft ist noch größer geworden, das zeigen nicht nur die Wahlergebnisse der letzten EU-Wahl.
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Foto: iStock DesignRage
Von 2. Juli 2024

„Eine Phantomgrenze durchzieht das Land“, schrieb im Mai 2024 der Soziologe Steffen Mau im „Spiegel“ über die Ost-West-Unterschiede. Im November jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 35. Mal. Der Professor an der Humboldt-Universität nimmt Bezug auf sein neues Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ und kommt zu dem Schluss: „Wer auf eine Verähnlichung von Ost und West setzt, der wird noch lange warten müssen. Deutschland ist ungleich vereint und wird es bleiben – was sich auch in Wahlergebnissen widerspiegelt.“

Bei der Europawahl 2024 hat die AfD in Deutschland 15,9 Prozent der Stimmen erhalten. Dies bedeutet einen deutlichen Zuwachs im Vergleich zur letzten Europawahl 2019, bei der die AfD 11 Prozent der Stimmen bekommen hatte.

In den ostdeutschen Bundesländern erzielte die AfD besonders hohe Ergebnisse. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erreichte die Partei über 30 Prozent der Stimmen, während sie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern über 25 Prozent erhielt​. Fast im ganzen Osten war die AfD damit stärkste Partei.

2021: Der Westen wählt „grün“, der Osten „blau“

Auch in der letzten Bundestagswahl (2021) verdeutlichten sich Unterschiede in den politischen Präferenzen zwischen Ost- und Westdeutschland: Während die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) in Westdeutschland bei der letzten Wahl 27,4 Prozent der Stimmen erzielte, kam sie in Ostdeutschland nur auf 19,8 Prozent. Noch gravierender ist der Unterschied bei den Grünen: Sie erhielten 17,3 Prozent der Stimmen in Westdeutschland, in Ostdeutschland jedoch nur 8,4 Prozent. Die Alternative für Deutschland (AfD) hingegen hatte im Osten einen deutlich höheren Stimmenanteil mit 20,4 Prozent im Vergleich zu 8,5 Prozent im Westen.

Steffen Mau prognostiziert einen politisch turbulenten Herbst, in dem FDP und Grüne im Osten „unter die Räder geraten“ und auch die SPD verzwergen könnte. Mit den drei bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland (Sachsen und Thüringen am 1. September, in Brandenburg am 22. September 2024),  könnte laut dem Soziologen ein neuer Kipppunkt bevorstehen.

Wenn am Sonntag Landtagswahl wäre…

Dieser „Tipping Point“ in Zahlen der aktuellen Sonntagsfrage: In allen drei Bundesländern zeigen die Wahlprognosen auf ein Allzeithoch der AfD. In Thüringen wäre sie mit 29 Prozent noch vor der CDU (22 Prozent), gefolgt vom BSW im Aufwind mit 20 Prozent. Hier sind die Grünen nur noch mit vier Prozent verortet. In Sachsen wäre die AfD mit 30 Prozent stärkste Kraft knapp vor der CDU mit 29 Prozent und BSW mit 15 Prozent. In Brandenburg besetzt die AfD mit 25 Prozent nach aktuellen Prognosen auch den Spitzenplatz.

Die AfD sei zwar keine Ostpartei, so Mau, der im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein aufgewachsen ist, aber sie tue dort viel dafür, „ein spezifisch ostdeutsches Gefühl für sich zu instrumentalisieren“. In manchen Gegenden sei sie auf dem Weg zur Volkspartei.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist mit der Losung angetreten, der AfD die Stirn zu bieten. So setzt sich das BSW sogar für eine Förderung Ostdeutscher im öffentlichen Dienst, in Verwaltung, Kultur und Wissenschaft ein. Ostdeutschland könnte zum Experimentierraum neuer Koalitionen werden, um die AfD von der Macht fernzuhalten. Das Potenzial sei damit da, dass sich die Reibeflächen zwischen Ost und West noch einmal vergrößern, so Soziologe Mau.

Mehr Arme, mehr Alte

Prägendes Merkmal bleiben hier die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West. Laut dem „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2023“ beträgt das durchschnittliche Bruttojahresgehalt in den westdeutschen Bundesländern rund 53.000 Euro, während es in Ostdeutschland bei etwa 41.000 Euro liegt. Trotz einer allmählichen Angleichung der Gehälter verdienen Arbeitnehmer im Osten durchschnittlich 22 Prozent weniger als ihre Kollegen im Westen.

Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland lag 2023 bei 6,4 Prozent, verglichen mit 4,7 Prozent in Westdeutschland. Auch wenn die Arbeitslosigkeit im Osten bereits deutlich gesunken ist (von über 15 Prozent in den 1990er-Jahren), zeigt sich immer noch ein Rückstand gegenüber dem Westen. Dies wird durch eine vergleichsweise geringere industrielle Basis und Herausforderungen wie Abwanderung und Alterung verstärkt.

Soziologe Mau benennt diese Ungleichheit der demografischen Verhältnisse: „Die ostdeutsche Teilgesellschaft schrumpft, während Westdeutschland unaufhörlich wächst.“ Nach dem Mauerfall wanderten jedes Jahr mehrere hunderttausend Menschen in die alten Bundesländer ab, schon zu DDR-Zeiten hatte sich die Bevölkerung um 14 Prozent reduziert, während die der Bundesrepublik um 30 Prozent zunahm. Nach der Wende ist die Bevölkerung im Osten noch einmal von knapp 15 Millionen auf 12,6 Millionen Menschen geschrumpft (Berlin ausgenommen). Im Westen ist sie im gleichen Zeitraum um weitere 10 Prozent gewachsen.

„Vermögensmauer“ teilt Deutschland in Ost und West

Zudem durchzieht Deutschland eine „Vermögensmauer“ zwischen Ost und West: Das Vermögen der Haushalte ist nach einem mdr-Bericht in Westdeutschland doppelt so hoch wie in Ostdeutschland:

Die in der DDR etablierte „Besitzlosigkeit“ hat sich nach der Wende verfestigt: Das Vermögen der armen Hälfte der Haushalte Ost liegt bei durchschnittlich 12.000 Euro, der vergleichbaren Haushalte West mit 24.000 Euro beim Doppelten.

Nicht nur bei Besitz und Verdienst, sondern auch im Bereich der Altersvorsorge gibt es Unterschiede. Laut dem „Rentenversicherungsbericht 2023“ liegt die durchschnittliche gesetzliche Rente in den neuen Bundesländern bei 1.174 Euro monatlich, während Rentner in den alten Bundesländern im Schnitt 1.404 Euro bekommen. Diese Differenz ist ein Erbe der unterschiedlichen Einkommensniveaus und Beitragsjahre in der Vergangenheit. Aber auch post mortem gibts in Ostdeutschland weniger zu holen: Nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftsteuer werden in Ostdeutschland gezahlt (ohne Berlin).

Weniger Chefs aus dem Osten

Auch über dreißig Jahre nach der Wende leidet der Osten unter einer dramatischen Elitenschwäche – nur wenige steigen in die Führungsriege des Landes auf. Der Anteil der Ostdeutschen in Spitzenjobs in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, der Kultur, im Justizwesen und in den Medien liegt bis heute weit unter ihrem Bevölkerungsanteil.

Nach dem „Elitenmonitor“, einem Forschungsprojekt der Unis Leipzig, Jena und Görlitz/Zittau, lag der Anteil der „Eliten“ mit ostdeutscher Herkunft 2018 bei 10,9 Prozent, 2022 waren es dann 12,2 Prozent. Der Bevölkerungsanteil von Menschen ostdeutscher Herkunft war durch die Wissenschaftler mit 20 Prozent angesetzt.

Die Annahme, dass die ostdeutsche Unterrepräsentation mit der Zeit auswachsen würde, habe sich nicht erfüllt. Soziologe Mau führt diese Kluft zurück auf „ungleiche strukturelle Gegebenheiten, fehlenden familiären Rückenwind und schwache Netzwerke“. Er benennt weitere „hartnäckige Unterschiede“ als Indikatoren für eine „Phanatomgrenze“ zwischen Ost und West: Unterschiedliche Kirchenbindung, Vereinsdichte, Parteimitgliedschaften, Exportorientierung der Wirtschaft, Hauptsitze großer Firmen, Patentanmeldungen, Produktivität, die Größe des Niedriglohnsektors, Kaufkraft, Ausstattung der Haushalte, den Wert des Immobilieneigentums und, „ja, auch die Zahl der Tennisplätze“.

Misstrauen gegen Politik und Institutionen

Die wirtschaftlichen und strukturellen Herausforderungen im Osten verstärkten die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik, will die „Deutsche Welle“ nach den Wahlergebnissen der EU-Wahl wissen. Diese Unzufriedenheit wurde auf den Fernsehbildschirmen als blaue Einfärbung in den Grenzen der neuen Bundesländer sichtbar.

Fakt ist: 52 Prozent der Menschen aus Ostdeutschland gaben bei einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen schon im September 2022 an, dass sie unzufrieden „mit der Demokratie“ sind, während lediglich 31 Prozent der Westdeutschen dieser Meinung sind. Das heißt, dass die Mehrheit der Ostdeutschen das politische Handeln wesentlich kritischer als die westdeutsche Bevölkerung betrachtet und staatlichen Institutionen weniger Vertrauen entgegenbringt – was sich am Ende in den aktuellen Wahlprognosen für Ostdeutschland widerspiegelt.

Mehr Impfverweigerer im Osten

Sogar bei der Corona-Impfquote gab es Unterschiede zwischen Ost und West. Während der offizielle Bundesdurchschnitt der Erstgeimpften bei 78 Prozent lag und Spitzenreiter Bremen sogar mit 92 Prozent aufwartete, waren beispielsweise im Bundesland Sachsen lediglich 66,3 Prozent zur Erstinjektion bereit.

Für Soziologe Mau hat das höhere Misstrauen gegenüber Staat und Politik „mit der kürzeren Demokratiegeschichte zu tun, aber auch damit, dass der Einheitsprozess nach 1989 die gerade erst begonnene Demokratisierung der Ostdeutschen schnell wieder ausgebremst hat.“ Das politisch-administrative System der BRD habe sich bemüht, basisdemokratische Experimente und unkonventionelle Formen der Partizipation zurückzudrängen, so der Soziologe: „Sie galten als nicht kompatibel und dysfunktional, störende Fremdkörper. Der Aufbau Ost schien nur als Nachbau West denkbar.“

Zusammengefasst bedeutet das, dass dem Osten eine einseitige Transformation aufgezwungen wurde, wie Mau im Interview mit dem linken „Jacobin“-Magazin sagte.

Deutsche Einheit: Das westdeutsche System übergestülpt?

84 Prozent der Ostdeutschen vertreten laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung die Auffassung, dass im Zuge der Wiedervereinigung viele Dinge, die in der DDR gut funktioniert haben, verloren gegangen sind.

„Die Befragten im Osten empfinden es vielfach so, dass damals keine neue gemeinsame Gesellschaft entstanden sei. Vielmehr sei ihnen mit der Einheit nur das westdeutsche System übergestülpt worden, an das sie sich anpassen mussten“, so Jana Faus vom Berliner Forschungsinstitut pollytix, das die Bertelsmann Studie durchgeführt hat. 60 Prozent der Ostdeutschen fühlten sich wie Bürger zweiter Klasse.

Gibt es noch das Bild vom „Jammer-Ossi“ mit der ihm zugesprochenen Opfermentalität und das vom „Besser-Wessi“, der sich als überlegener Sieger fühlt? Soziologe Mau meint, mitunter gebe es atmosphärische Störungen zwischen Ost und West: „Die einen fühlen sich kolonialisiert, die anderen ausgenutzt.“



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