Gabriel befürchtet „Ende des europäischen Zeitalters“
In einem Interview mit „Focus“ spricht Sigmar Gabriel über tektonische Veränderungen der politischen Welt und verschobene Machtachsen.
Nach der Entdeckung Amerikas ging fast 600 Jahre lang fast alles von Europa aus – „im Guten wie im Schlechten“. Jetzt erlebten wir das Ringen um eine neue Weltordnung. China, Indien und bald auch einige Länder Afrikas wollen nicht mehr in der Rolle der „Entwicklungsländer“ verharren, sondern prägenden Einfluss nehmen. Laut Sigmar Gabriel sei dies das Ende des europäischen Zeitalters.
Die Machtachsen verschöben sich vom Atlantik in den Indopazifik, wo der größte Anteil am Weltsozialprodukt erarbeitet wird. Inzwischen gibt es dort fünf Atommächte. „Wir haben mindestens zehn Jahre vor uns, in denen um Macht und Einfluss auf diese neue Weltordnung gerungen wird“, sagt Gabriel weiter.
Ukraine nur ein Mittel zum Zweck
Russland habe laut Gabriel in Europa seit 1990 ständig an Einfluss verloren und versuche jetzt vom Status eines Energielieferanten in die Rolle einer Großmacht zurückzukehren. Deshalb führe Putin Krieg im Nahen Osten. Die Ukraine sei dafür nur ein Mittel zum Zweck. Seinen alten Bündnispartnern wie Assad zeige er: „Seht her, ich laufe nicht gleich davon.“
Putin wolle über die Zukunft Europas mitentscheiden und setze dafür das einzige Machtmittel ein, das er noch habe: sein Militär.
Der ehemalige SPD-Parteichef hofft, „dass er und vor allem sein Umfeld vor einem Atomkrieg doch zurückschrecken, der auch Russland Millionen von Opfern bescheren würde.“
„Europa muss seine Stärke festigen“
Jetzt laute das Gebot der Stunde, Stärke und Abschreckung gegenüber Russland zu zeigen, so Gabriel weiter.
Künftig müsse Deutschland seine Interessen klarer formulieren und ins transatlantische Bündnis mit der EU zurück und zusammen mit Frankreich die Führung Europas übernehmen. Die Einbindung in die europäische und die transatlantische Sicherheitspolitik sei das A und O für Deutschland und auch die Voraussetzung dafür, dass Europa zusammenhalte.
Diplomatie, Dialog und Verständigung bleiben wichtig, aber sie halten eben immer auch Enttäuschungen bereit.“ Und mit dieser Enttäuschung rechnet Sigmar Gabriel.
Putin wisse, dass unsere Sanktionen gegen ihn auch für uns teuer werden. Er würde uns in die Lage treiben, in der wir in „eine Zeit zurückfallen, da quer durch Europa wieder eine Grenze verlaufen wird, an der wir uns – bis an die Zähne bewaffnet – gegenüberstehen.“
Deutschland müsse seine Lehre aus dem zweiten Weltkrieg ziehen und nicht nur dem Satz „Nie wieder!“ folgen, sondern auch „Nie wieder allein!“
„Die NATO erwartet, dass die Mitgliedstaaten zwei Prozent ihrer Etats für Verteidigung bereitstellen. Deutschland hat das lange ignoriert.“ Gabriel wünscht sich eine genaue Definition, und dass Deutschland Verantwortung für die Verteidigung Osteuropas übernehme.
Das bedeute 1,5 Prozent für die Bundeswehr und 0,5 Prozent für die Verteidigung der osteuropäischen Länder. Europa würde damit gestärkt.
Die Bundeswehr reformieren
Für die Bundeswehr will Finanzminister Christian Lindner 100 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Sigmar Gabriel äußert seine „berechtigte Sorge“, dass „mehr Geld im derzeitigen Zustand der Bundeswehr nicht zu mehr militärischen Fähigkeiten führt“. Seit 2005 habe die Bundeswehr immer mehr Geld bekommen, sei aber nicht besser geworden.
„Wenn ich jetzt höre, dass für die Auswertung des Afghanistan-Einsatzes vier Jahre veranschlagt werden, dann ahne ich, wie langsam, bürokratisch und ineffizient dort gearbeitet wird. Nur mehr Geld hilft da nicht.“ Es bedarf einer grundlegenden Reform. (bs)
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