„Falsches Signal“: Union und AfD gegen Bürgergeld-Pläne
Zum Jahreswechsel soll nach dem Willen der Koalition das bisherige System des Arbeitslosengelds II („Hartz IV“) durch das sogenannte Bürgergeld ersetzt werden. Das Konzept könnte jedoch am Bundesrat scheitern: Dort verfügen Länder, in denen die Union mitregiert, über eine Mehrheit. Erst am Montag, 31. Oktober, hat CSU-Chef Markus Söder die Bürgergeldpläne der Regierung Scholz kritisiert. Auch die CDU will der Reform in ihrer jetzigen Form nicht zustimmen.
Söder sieht Abstandsgebot zu Erwerbseinkommen als nicht erfüllt
Das Bürgergeld sei ein „falsches Signal“, erklärte Söder im „ZDF-Morgenmagazin“. Es sei eine „völlige Umkehr des Grundsatzes: Wer mehr arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet.“ Es sei zudem „völlig absurd“, dass trotz Arbeitskräftemangels „nicht einmal die Möglichkeit bestehen könnte, jemanden zu motivieren, eine Arbeit anzunehmen“.
Höhere Löhne als Maßnahme, um den Abstand wieder herzustellen, seien Sache der Tarifparteien und nicht der Politik. Auch CDU-Generalsekretär Mario Czaja kündigte im „Tagesspiegel“ an, seine Partei werde dem Bürgergeld in seiner jetzigen Fassung „nicht zustimmen können“.
Nachbesserungen beim Bürgergeld hat auch der Deutsche Städtetag gefordert. Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy erklärte gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND), die Reform sei grundsätzlich „eine gute Sache“. Sie habe eine „breite parlamentarische Unterstützung verdient“, äußerte Dedy und appellierte an Ampelkoalitionäre und Union, sich zu verständigen.
Städtetag beanstandet höhere Schonvermögen beim Bürgergeld
Allerdings sieht man in der Kommunalvereinigung in mehrerer Hinsicht Änderungsbedarf. Dedy äußerte gegenüber dem RND:
In drei Bereichen des Gesetzentwurfes muss die Koalition allerdings nachbessern: bei der Anrechnung von Vermögen, der Ausstattung der Jobcenter und beim Verwaltungsaufwand.“
Es sei „falsches Signal, dass zwei Jahre lang das Vermögen keine Rolle spielt, wenn jemand Bürgergeld beantragt“. Diese Karenzzeit solle „maximal ein Jahr“ betragen. Zudem sei es erforderlich, die Jobcenter ab 2023 personell und finanziell zu stärken.
Während das Reformvorhaben eine Chance biete, das System zu entbürokratisieren, befürchte er stattdessen mehr Bürokratie, erklärte Dedy. Dabei gelte der Grundsatz:
Der Verwaltungsaufwand für neue Regelungen sollte so gering wie möglich sein.“
AfD und CDU-Wirtschaftsrat fordern verpflichtende „Bürgerarbeit“
Während die Linkspartei im Bundestag das Bürgergeld-Konzept als nicht ausreichend ansah, um dem gestiegenen Armutsrisiko gegenzusteuern, fordert die AfD eine weitere Verschärfung. In einem eigenen Antrag fordert die Partei, nach einer Karenzzeit den Bezug von Bürgergeld an die Teilnahme an „Bürgerarbeit“ zu knüpfen.
Diese verpflichtende gemeinnützige Aktivität soll 15 Stunden umfassen. Entfallen solle diese Verpflichtung nur, wenn bereits eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit mindestens zwanzig Wochenstunden bestehe. Der CDU-Wirtschaftsrat hatte bereits Anfang September eine ähnliche Arbeitspflicht gefordert.
Nehmen Verpflichtete nicht an der Bürgerarbeit teil, will die AfD die Auszahlung von Barmitteln durch eine Sachleistungsdebitkarte ersetzen. Für Bezieher von Bürgergeld solle zudem eine Residenzpflicht am Wohnort bestehen. Ein nicht mit dem Jobcenter abgesprochener Auslandsaufenthalt soll einen temporären Leistungsausschluss zur Folge haben.
Befürworter des Bürgergeld-Konzepts der Ampelkoalition sehen in den Forderungen nach Verschärfung vor allem Schikane – und keinen Beitrag zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit. Während derzeit sogar im Inland bereits massenhaft Kurzurlaube und Firmenfeiern abgesagt werden, rechnen Ökonomen für 2023 auch mit deutlich mehr Arbeitslosen. Wenn die Krise den Arbeitsmarkt erreicht, ist demnach auch mit einem angebotsseitigen Problem zu rechnen.
Was soll das Bürgergeld beinhalten?
Das Bürgergeld-Konzept der Ampelkoalition verfolgt den Zweck, den Übergang von ALG I in die Grundsicherung zu entschärfen. Sofern ein Betroffener in dieser Zeit einen „Kooperationsplan“ mit dem Jobcenter abschließt, genießt er eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“. In dieser ist eine Verringerung von Leistungen ausgeschlossen.
Zudem sollen der sofortige Zugriff auf vorhandene Vermögenswerte und erzwungene Veränderungen der Wohnsituation unterbleiben. In den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges soll für jeden Betroffenen ein Schonvermögen von 60.000 Euro erhalten bleiben, für jede weitere Person im Haushalt steigt die Zugriffsschwelle um weitere 30.000 Euro an. Erst nach Ende dieses Zeitraums soll das Schonvermögen auf 15.000 Euro sinken.
Die Regelsätze der Grundsicherung sollen zudem um rund 50 Euro pro Monat steigen. Vorgesehen sind nun 449 Euro für einen Single und 808 Euro für ein Paar. Aufgrund der hohen Inflation bleibt offen, ob eine Erhöhung in diesem Ausmaß tatsächlich die Mehrkosten der Lebenshaltung abdeckt. Ebenfalls über einen Zeitraum von zwei Jahren soll es auch keine Überprüfung der Angemessenheit von Wohnraum geben. Die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung würden in diesem Zeitraum in tatsächlicher Höhe anerkannt. Das soll auch für selbst genutztes Wohneigentum gelten.
Neben diesem Entgegenkommen gegenüber Besitzern von Ersparnissen sieht das Bürgergeld-Konzept auch spezielle Förderprogramme für junge Menschen sowie Boni für die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten vor.
Anpassung der Gesetzgebung an die Lebensrealität
Während Kritiker der Reform einen weiteren Schritt in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) sehen, verneinen Befürworter ein solches Signal. Ihnen zufolge würde das Bürgergeld nicht nur mehr „Augenhöhe“ zwischen Arbeitssuchenden und Jobcentern schaffen. Vor allem würde die Reform Realitäten Rechnung tragen, gegen die Jobcenter ohnehin in der Praxis nichts ausrichten könnten.
Die Rechtsprechung zahlreicher Gerichte vom Bundesverfassungsgericht abwärts hat den Spielraum zur Verhängung von Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger zunehmend eingeschränkt. Im Jahr 2020 sollen, wie die „Welt“ schreibt, bereits 48 Prozent der Einsprüche und 70 Prozent der angestrengten Klagen zu einer Aufhebung der Maßnahmen geführt haben.
Außerdem gibt vor allem in Großstadtlagen der Immobilienmarkt eine zeitnahe Anpassung der Wohnsituation schlichtweg nicht her. Insbesondere in Berlin, wo prozentual viele Hartz-IV-Empfänger leben, herrscht Wohnungsnot. Aber auch in ländlichen Regionen wäre mit erzwungenen Umzügen häufig für die Jobcenter nicht viel gewonnen. Die Aufwendungen für Fixkosten plus Heizung in dörflichen Eigenheimen wären nicht unbedingt kleiner als für Miete plus Heizen in der nächsterreichbaren Stadt.
Betroffene hegen Argwohn gegen andere Langzeitarbeitslose
Der Argwohn, Langzeitarbeitslose würden das System ausnutzen, ist jedoch nicht nur in wohlhabenderen Kreisen verbreitet. Auch unter den Betroffenen selbst ist diese Meinung verbreitet. Der „Focus“ berichtete jüngst über eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum. An dieser nahmen 560 Hartz-IV-Empfänger in acht Jobcentern teil.
Von diesen erklärten 41 Prozent, es stimme „voll und ganz“, dass „viele Hartz-IV-Bezieher das System ausnutzen“. Weitere 24 Prozent stimmen „eher“ zu. Nur zehn Prozent der Befragten wiesen die Aussage überwiegend oder vollständig zurück.
Zudem spricht sich nur etwa die Hälfte der Befragten dafür aus, Sanktionen abzuschaffen, wenn jemand ein Jobangebot oder eine Fortbildung nicht annimmt. Ungefähr ein Viertel ist demnach dagegen, der Rest unentschlossen.
Bürgergeld soll individuelle Konzepte und Weiterbildung forcieren
Das Konzept von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will mit dem Bürgergeld den derzeit geltenden „Vermittlungsvorrang“ abschaffen. Dieser sah vor, Transferempfänger möglichst schnell in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bringen.
Stattdessen sollen sich Jobcenter künftig stärker um Langzeitperspektiven für Arbeitssuchende kümmern. Diese sollen einen Bonus von 150 Euro monatlich erhalten, wenn sie an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen. Befürworter finden den Ansatz sinnvoll, weil er eine nachhaltigere Beschäftigungsperspektive schaffe. Kritiker befürchten demgegenüber, dass viele Betroffene ohne Druck zur Arbeitsaufnahme nicht mehr in den Arbeitsprozess zurückfänden.
Von den befragten Hartz-IV-Empfängern würden im Übrigen 75 Prozent mehr Möglichkeiten zum Zuverdienst wünschen. Bereits jetzt gab etwa ein Drittel der Betroffenen an, sich mindestens einmal wöchentlich etwas dazuzuverdienen. Ob sie ihren Nebenverdienst an das Jobcenter melden, fragten die Meinungsforscher nicht ab. Die SPD-Forderung, ein Vermögen bis 60.000 Euro dauerhaft unangetastet zu lassen, finden etwa 60 Prozent der Befragten gut.
Keine Kostenexplosion gegenüber früheren Jahren
Die Kosten für das Hartz-IV-System betrugen im Jahr 2020 rund 44,3 Milliarden Euro. Dies geht aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervor. In der Zeit zwischen 2011 und 2020 haben sich die Kosten weitgehend zwischen 41 und 45 Milliarden Euro jährlich eingependelt.
Lediglich im Jahr 2010 schlugen Kosten in Höhe von knapp 47 Milliarden Euro für das bestehende System zu Buche. In diesem war der Arbeitsmarkt noch durch die Folgen der Weltfinanzkrise Ende der 2000er-Jahre belastet. Die Aufzählung umfasst Grundsicherung, Sozialversicherungsbeiträge, Eingliederungsleistungen, Verwaltungskosten und weitere damit in Zusammenhang stehende Leistungen.
Das von Minister Heil vorgeschlagene Konzept würde jährliche Mehrkosten von 500 Millionen Euro verursachen. Zum Vergleich: Einer Schätzung des ifo aus dem Jahr 2019 zufolge liegen die kumulativen systemischen Mehrkosten für die „Energiewende“ bis 2050 je nach Randbedingungen zwischen 500 und mehr als 3.000 Milliarden Euro. Das entspreche pro Jahr im Durchschnitt 0,4 bis 2,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus dem Jahr 2018.
Die Kosten der Arbeitslosigkeit machten demgegenüber im Jahr 2017 noch 1,62 Prozent der damals erwirtschafteten Gesamtleistung der Volkswirtschaft aus. Dabei gilt: Je höher das Wachstum ausfällt, umso geringer sind die Aufwendungen für die Arbeitslosigkeit.
Langzeitarbeitslosigkeit häufiger ein Gesundheits- als ein Charakterproblem?
Viele Forderungen nach einer Verschärfung der Bezugsbedingungen für die Grundsicherung gehen vom Bild eines Anspruchsberechtigten aus, der es am nötigen Willen zur Arbeitsaufnahme vermissen lasse. Häufig ist Langzeitarbeitslosigkeit jedoch weniger ein Problem des Charakters als der Gesundheit der Betroffenen. Das „Ärzteblatt“ präsentierte im Jahr 2013 die Ergebnisse einer Untersuchung auf Grundlage umfassender Meta-Analysen und systematischer Reviews. Diesen zufolge haben Langzeitarbeitslose gegenüber Erwerbstätigen ein mindestens doppelt so hohes Risiko für psychische Erkrankungen. Dies gelte insbesondere mit Blick auf Depression und Angststörungen.
Auch die Mortalität ist um das 1,6-Fache erhöht. Begrenzte Evidenz deute zudem auf eine etwas höhere Prävalenz von Alkoholerkrankungen unter langzeitarbeitslosen Menschen hin. Auch gebe es Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Inwieweit die häufig auch psychischen Erkrankungen Ursache oder Folge der Langzeitarbeitslosigkeit sind, ist demnach nicht trennscharf auseinanderzuhalten. Eine Ausnahme sind Krebserkrankungen, die im Regelfall Ursache von Arbeitslosigkeit sind.
Makroökonomische Krisen verstärken der Studie zufolge den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Sozialstaatliche Abfederungen schwächten ihn ab. Die Schlussfolgerung der Autoren lautet, dass Gesundheitsförderung integraler Teil der beruflichen Reintegration in Form von Qualifikationsmaßnahmen sein solle.
Betroffene empfänden individuelle Beratungen zwar als positiv, hinsichtlich gesundheitlicher Verhaltensänderung und psychischer Gesundheit seien partizipative gruppenbasierte Aktivitäten in der Lebenswelt (Setting) jedoch erfolgreicher.
(Mit Material von afp und dpa)
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