Expertenrat: Deutsches Gesundheitssystem ist nicht krisenfest

Das deutsche Gesundheitssystem ist Experten zufolge schlecht auf Krisen vorbereitet. Um das zu ändern, haben die Wissenschaftler nun spezielle Maßnahmen vorgestellt. Bundeskabinett hat Entwurf zur Versorgung in Notfallzentren verabschiedet.
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Die Notaufnahmen sollen künftig in neuen Integrierten Notfallzentren aufgehen. Symbolbild.Foto: upixa/iStock
Von 19. Juli 2024

Das deutsche Gesundheitssystem ist nach Einschätzung des beim Kanzleramt angesiedelten Expertenrats „Gesundheit und Resilienz“ nicht gut auf zukünftige Krisen vorbereitet. Es werde im Vergleich zu anderen Ländern extrem viel in die Gesundheitsversorgung investiert, ohne dass die Gesundheit der Menschen entsprechend besser werde, erklärt das Gremium in einer Stellungnahme, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.

Hinzu käme, dass Deutschland sich in einer demografisch herausfordernden Situation befinde, da die Bevölkerung stark altere. Gleichzeitig gingen rund 30 Prozent der Fachkräfte im Gesundheitssystem in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Zudem nehmen gesundheitliche Ungleichheiten zu. Das Gesundheitssystem biete keine ausreichende Basis „für eine Vorbereitung auf krisenhafte Situationen, Störungen und Schocks“, schlussfolgert der Rat. Eine Veränderung des insgesamt „ineffizienten, qualitativ mäßigen Systems“ scheine unabdingbar.

Frühzeitig auf Krisen vorbereiten

Der Expertenrat aus 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen hat im März seine Arbeit aufgenommen. Das Gremium folgte auf den Corona-Expertenrat. Zu den Expertinnen und Experten gehören unter anderem die ehemalige Vorsitzende des deutschen Ethikrats Alena Buyx und der Virologe Christian Drosten.

Die Medizin habe gerade in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei innovativen Therapien erreicht und biete neue Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen, sagte der Charité-Vorstandsvorsitzende und Chef des Expertenrats, Heyo K. Kroemer. Das sei Ziel wissenschaftlicher Entwicklungen, zugleich aber auch sehr kostenintensiv.

Daher stellt sich Kroemer zufolge die Frage, wie künftige, oft teure Innovationen finanziert und gleichzeitig für alle betroffenen Patientengruppen bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden können. „Wenn eine solche Entwicklung nicht mehr vollumfänglich finanziert werden kann, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Entscheidungen erfolgen“, sagte Kroemer. Im Expertenrat sei man der Meinung, „dass man diese absehbare Problematik jetzt diskutieren sollte“.

Außerhalb von Krisen aktiv werden

Um das Gesundheitssystem effizienter und krisenfester zu machen, empfiehlt der Rat, das Verständnis von Innovation zu erweitern. Demnach dürfe es nicht nur darum gehen, neue Medikamente oder Diagnoseverfahren zu entwickeln, sondern auch bewusst Leistungen oder Maßnahmen wegzulassen, die keinen Mehrwert brächten. Innovationen könnten zudem strukturelle Neuerungen oder Veränderungen sein. Zum Beispiel werde seit Längerem diskutiert, ob und welche nicht ärztlichen Berufsgruppen einzelne, bisher ärztliche Tätigkeiten übernehmen könnten. Auch die Umgestaltung der Krankenhausversorgung sei ein Beispiel.

Das deutsche Gesundheitssystem habe international einen sehr hohen Standard, sagte Kroemer. „Damit hat man aber auch eine extreme Verantwortung, darüber nachzudenken, wie man das System für die zukünftigen Herausforderungen resilient gestalten kann.“ Es sei wichtig, dass Politik und Wissenschaft vorausschauend zusammenarbeiten. Dafür sollten sie Zeiten ohne besondere gesundheitliche Herausforderungen, wie der Corona-Pandemie, dafür nutzen, sich auf mögliche Entwicklungen strukturell und grundlegend vorzubereiten.

Wissenschaftliche Politikberatung wie der Expertenrat sei dabei sehr hilfreich, sagte Kroemer. Der Rat könne außerhalb von Krisen Expertise aufbauen und während Krisen schnell reagieren und fundierte Empfehlungen anbieten.

Scharfe Kritik an Lauterbachs Reformplänen

Scharfe Kritik üben indes Opposition und Kommunen an den Plänen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zur Reform der Notfallversorgung.

„Minister Lauterbach hat bei der Reform der Notfallversorgung viel Zeit verloren und mit seinem Alleingang bei der Krankenhausreform zahlreiche Akteure vor den Kopf gestoßen“, sagte der gesundheitspolitische Sprecher Unionsbundestagsfraktion, Tino Sorge, dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND). „Bis heute gelingt es der Ampel nicht, den Gleichlauf von Notfallreform und Krankenhausreform herzustellen.“

„Inmitten der Ungewissheit, welche Häuser nach der Krankenhausreform überhaupt weiter bestehen werden, werden die neuen Integrierten Notfallzentren nur schwer planbar sein“, so Sorge weiter.

Kritik kommt auch vom Deutschen Landkreistag (DLT). „Das Verfahren lehnen wir nachdrücklich ab, weil es wichtige Beteiligungsrechte von Kommunen und Ländern verkürzt und damit auch inhaltlich falsche Eingriffe in den Rettungsdienst befürchten lässt“, sagte ein Sprecher dem RND. „Wir haben eine ganze Reihe von einzelnen Forderungen, die noch umgesetzt werden sollen. Dazu gehört, Dinge zu lassen, die die Planungshoheit der Länder einschränken.“ In dem Zusammenhang nennt der Sprecher ein Weisungs- und Dispositionsrecht für die Leitstellen auch gegenüber Ärzten im Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Das Bundeskabinett hatte am Mittwoch, 17. Juli 2024, einen Entwurf zur Notfallversorgung in Kliniken verabschiedet. Er sieht die Einrichtung von sogenannten „Integrierten Notfallzentren“ vor, berichtet der „Bayerische Rundfunk“ (BR) auf seiner Internetseite. Die Zentren kombinieren demnach die Notaufnahme mit einer Notdienstpraxis und sortieren die Patienten weitestgehend nach ihren Beschwerden vor.

Gibt es Hinweise auf ernsthaftere Erkrankungen, kommen die Hilfesuchenden in die Notaufnahme. Leiden sie an ambulant behandelbaren Erkrankungen wie eine Magen-Darm-Infektion, kümmert sich ein Arzt oder eine Ärztin in der Notdienstpraxis darum. Gesundheitsminister Karl Lauterbach denkt, dass mit diesem Konzept die Notaufnahmen entlastet werden können. So sagte er bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs, dass etwa ein Drittel der Patienten, die eine Notaufnahme aufsuchen, auch von einem niedergelassenen Arzt versorgt werden könnte.

Probleme vorwiegend in ländlichen Gebieten

Der Entwurf sieht vor, flächendeckend sogenannte „Integrierte Notfallzentren“ (INZ) einzurichten. In diesen Zentren soll die klassische Notaufnahme mit einer Notdienstpraxis kombiniert werden. Kommt ein Patient etwa mit starken Bauchschmerzen in die Notaufnahme, wird sein Fall zuerst an einer zentralen Anlaufstelle medizinisch eingeschätzt. Deuten die Symptome zum Beispiel auf eine Blinddarmentzündung hin, kommt er in die Notaufnahme. Handelt es sich nur um eine starke Magen-Darm-Infektion, wird der Patient an die Ärztin in der Notdienstpraxis verwiesen.

In Bayern seien vorwiegend Kliniken in ländlichen Regionen überlastet, wo niedergelassene Ärzte fehlen. Wer dann ein gesundheitliches Problem habe, suche mangels Angebot eine Notaufnahme aus. Notfallpraxen sollen im Freistaat daher Abhilfe schaffen.

Bereits im Oktober 2023 hatte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, Zweifel an der Funktionsfähigkeit der INZ geäußert. Er verwies dabei auf den Personalmangel: „Wir müssen von der Illusion runterkommen, dass wir einfach noch eine dritte Versorgungsebene schaffen, und die füllen wir dann auch noch mit Menschen, die wir jetzt schon nicht haben.“ Er schätzte, dass durch die Einrichtung der Integrierten Notfallzentren etwa ein Drittel der Hausärzte in der ambulanten Versorgung fehlten, weil sie dann den Zentren zugeteilt würden. “Die ambulante Versorgungsebene zu den normalen Sprechzeiten sind die Praxen“, bekräftigte der KBV-Chef.

(Mit Materialien von Agenturen)



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