Mehrheit will individuelles Recht auf Asyl aussetzen – Fragen an Staatsrechtler Vosgerau
Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge stellten Migranten von Januar bis September 179.212 Erstanträge. Auch wenn die Zahl der Anträge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 23,3 Prozent zurückgegangen ist, bleibt das Thema hochaktuell. Das Meinungsforschungsinstitut INSA fragte kürzlich im Auftrag der „Bild am Sonntag“: „Sollte Deutschland Ihrer Meinung nach ebenfalls das individuelle Recht auf Asyl vorübergehend aussetzen, wie es die polnische Regierung derzeit plant?“
FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki (72) meinte gegenüber der Zeitung, das individuelle Asylrecht sei im Grundgesetz verankert und lasse sich „nur mit einer verfassungsändernden Mehrheit“ aussetzen.
Konkret ist diese Mehrheit dann gegeben, wenn mindestens zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten und der Mitglieder des Bundesrates der Änderung zustimmen.
Aber selbst, wenn diese verfassungsgebenden Mehrheiten zustande kommen, gibt es Stimmen, die grundsätzlich bezweifeln, dass eine solche Änderung überhaupt möglich sei. Ein Grund ist die „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes unter Artikel 79 Abs. 3. Die sogenannte Ewigkeitsgarantie garantiert unter anderem die Unveränderbarkeit des föderalen Systems der Bundesrepublik und nennt explizit Artikel 1 und 20 als unveränderbar und dauerhaft gegen alle Änderungswünsche geschützt.
Nicht alles ist für die Ewigkeit gemacht
Das Asylrecht (Art. 16a GG) an sich ist nicht durch die Ewigkeitsklausel geschützt. Aber Kritiker einer Änderung beziehen sich auf die Menschenwürde in Artikel 1, die eng mit dem Schutz von Verfolgten zusammenhängt und unveränderlich ist. Damit seien grundlegende Schutzmechanismen für Asylsuchende rechtlich fest verankert und könnten ebenfalls nicht ohne weiteres abgeschafft werden.
Wenn das Asylrecht auch dem Schutz der Menschenwürde Rechnung trägt, die in Artikel 1 des Grundgesetzes unter die Ewigkeitsklausel fällt, dann wäre Artikel 16a ebenfalls von der Ewigkeitsklausel vor Veränderungen geschützt. Aber warum haben die Verfassungsväter den individuellen Schutz von politisch Verfolgten dann nicht ebenfalls unter Artikel 79 Abs. 3 mit einer Ewigkeitsgarantie versehen?
Ein Asylkompromiss vor über dreißig Jahren
Staatsrechtler Dr. Ulrich Vosgerau erinnert im Gespräch mit Epoch Times zunächst an den seinerzeit viel diskutierten Asylkompromiss Anfang der 1990er-Jahre:
„Bereits 1992/93 wurde durch den damaligen Asylkompromiss zwischen Union, SPD und FDP das subjektive Asylrecht faktisch in der Hauptsache abgeschafft. Damals wurde festgelegt, dass niemand mehr asylberechtigt ist, der auf dem Landweg aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist. Seither ist es geltendes Verfassungsrecht, dass überhaupt nur asylberechtigt sein kann, wer entweder mit dem Schiff oder mit dem Flugzeug kommt. Und das sind natürlich sehr, sehr wenige Personen.“
Vosgerau erinnert auch daran, dass es, als der Asylkompromiss beschlossen wurde, bereits viel Protest dagegen gegeben habe. Der Schriftsteller Günter Grass beispielsweise sei deswegen aus der SPD ausgetreten. Aber damals habe es in der Erinnerung von Vosgerau nicht das Argument gegeben, dass das subjektive Asylrecht irgendwie mittelbar an der Menschenwürdegarantie teilhabe.
„Ein subjektives Asylrecht gibt es kaum außerhalb Deutschlands. Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes hätte es überhaupt kein subjektives Recht auf Asyl jemals geben sollen“, meint der Staatsrechtler gegenüber Epoch Times. Und weiter:
„Deswegen hieß es auch immer, politisch Verfolgte genießen Asylrecht, nicht, sie können das Asylrecht verlangen oder einfordern oder gar einklagen. Das Asylrecht ist seit jeher ein völkerrechtlicher Begriff. Und der ist von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht erfunden worden, sondern wird vorausgesetzt.“
Und weiter: „Das Asylrecht im Völkerrecht ist ein Recht, aber ein Recht der Staaten. Im Völkerrecht sind die Staaten die eigentlichen Rechtssubjekte. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Recht auch zu einem subjektiven Recht der Einzelperson umgedeutet und hat dadurch die Asylkrise seit den 1980er-Jahren ausgelöst, die dann 1992/93 zum ersten Asylkompromiss geführt hat.“
Menschenwürdegarantie
Dass jetzt, wo es nach der verfassungsrechtlichen Lage für weit über 90 Prozent der Asylbewerber ohnehin kein subjektives Asylrecht mehr gebe und dass jetzt plötzlich die Menschenwürdegarantie ins Feld geführt werde, sei Ausdruck des Kulturkampfes, der auch im deutschen Verfassungsrecht tobe, so Vosgerau.
Das werde im Übrigen auch mit anderen Garantien gemacht. Man versuche insbesondere das Gleichheitsrecht aus Artikel 3 und noch besonderer, das Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Absatz 3 irgendwie in die Menschenwürdegarantie einzubeziehen.
Der Asylkompromiss von 1992/93 sei faktisch durch das Schengen-Regime und die offenen Grenzen unterlaufen worden: „Und deswegen ist die Forderung die logische Folge, jetzt auch im Grundgesetz klarzustellen, dass es kein subjektives Recht auf Asyl gibt, sondern dass die Asylgewährleistung für Menschen gilt, die beispielsweise im Ausland die Werte auch des Grundgesetzes mit friedlichen Mitteln verfochten haben und deswegen politisch verfolgt werden.“
Das Grundgesetz als Bekenntnis zum völkerrechtlichen Asylrecht
Für den Staatsrechtler eine völlig sinnvolle Forderung. Wodurch man dann auch Islamisten und so weiter ausschließen könne. Vosgerau selbst hatte diese Forderung schon 2018 in seinem Buch „Herrschaft des Unrechts“ erhoben.
Es sei ohne Weiteres möglich, das Asylrecht aus dem Grundgesetz zu streichen. Es gebe überhaupt kein Gebot, die Erwähnung des Asylrechts aufrechtzuerhalten.
Das Asylrecht ist für Vosgerau ein völkerrechtliches Institut. Es wäre in der Sache immer noch da – auch wenn man es aus dem Grundgesetz streiche –, weil es dem Völkerrecht angehöre. Das Grundgesetz sei hier eine Art Bekenntnis zum völkerrechtlichen Asylrecht.
„Das Asylrecht gehört ins Völkerrecht und ist dort ein Recht der Staaten“, meint Vosgerau weiter.
„Und das bedeutet, dass ein Staat das Recht hat, die Staatsbürger anderer Staaten bei sich aufzunehmen, auch wenn sie zu Hause verfolgt werden, dort als Verbrecher oder als Verräter betrachtet werden. Damit durchbricht das völkerrechtliche Asylrecht den ansonsten im Völkerrecht geltenden Grundsatz des Verbots der Einmischung in innere Angelegenheiten.“
Das sei die völkerrechtliche Bedeutung des Asylrechts, so Vosgerau. Es sei niemals ein subjektives Recht von Personen gewesen und sollte es auch nach dem Willen der Väter und Mütter des Grundgesetzes nie sein.
Artikel 16a und das europäische Asylsystem
Und es gibt weitere Argumente gegen eine Änderung des Artikels 16a des Grundgesetzes. Deutschland ist an europäisches Recht gebunden. Danach schränkt EU-Recht indirekt eine Änderung des Artikels 16a ein. Denn Deutschland ist durch die EU-Grundrechte-Charta und das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) an europäische Asylstandards gebunden. Diese verpflichten Mitgliedstaaten zur Aufnahme und zum Schutz von Asylsuchenden.
Einseitige Maßnahmen, die das Asylrecht aussetzen, könnten – jedenfalls theoretisch – Mitgliedschaften in der EU gefährden oder zu Sanktionen gegen die Mitgliedstaaten führen, die sich nicht an die Vereinbarungen halten.
Die Notstandsklausel nach Artikel 72
Zuletzt häufiger wurde wie vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz mit bestimmten Notstandsklauseln (bei Notlage eines EU-Mitglieds) im EU-Vertrag argumentiert.
Theoretisch könnte Deutschland eine Notstandsklausel nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geltend machen, die Mitgliedstaaten erlaubt, im Notfall von gewissen Verpflichtungen abzuweichen, wenn die innere Sicherheit ernsthaft gefährdet ist. Dies wäre jedoch nur temporär und müsste gut begründet sein.
Heiko Teggatz, der Chef der Bundespolizeigewerkschaft, ist schon länger der Auffassung, dass die Gefahr für die innere Sicherheit längst vorliegt:
„Oder sie ist bereits damit begründet, dass überhaupt Grenzkontrollen angeordnet werden. Ich muss gar keinen Schritt weitergehen. Das, wovon die Union redet, das ist der sogenannte Notstand der inneren Sicherheit. Aber auch den kann ich aufgrund der Lage, die wir haben – denken Sie nur an eine terroristische Bedrohungslage –, der EU gegenüber ohne Probleme begründen.“
Aber auch ohne das Asylrecht formell auszusetzen, könnte Deutschland die Asylpolitik restriktiver gestalten, etwa durch schnellere Abschiebungen, konsequentere Anwendung der Dublin-Verordnung und verstärkte Grenzkontrollen. Solche Maßnahmen wären politisch und rechtlich eher umsetzbar und werden bereits diskutiert.
Meloni, Orbán und Tusk
Der ehemalige Chef des Bundesverfassungsschutzes und Chef der WerteUnion, Hans-Georg Maaßen, erklärte jüngst: „Otto Schily, damals Bundesinnenminister, hat schon 2010 EU-Flüchtlingslager in Libyen oder Tunesien gefordert und wollte kein Asyl gewähren. Auch einer gerichtlichen Kontrolle bedürfe es nicht, urteilte er.“
Maaßen fasst zusammen, wie andere E-Mitgliedstaaten heute schon verfahren: „Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni lagert die Überprüfung von Migranten nach Albanien aus. Viktor Orbán weigert sich, Migranten das Tor zu Ungarn zu öffnen. Polens Donald Tusk will das Asylrecht vorübergehend komplett aussetzen.“
Die vollständige Aussetzung des Asylrechts ist in Deutschland schwer umzusetzen, will man nicht gegen eine bestimmte Auslegung des Grundgesetzes, gegen das EU-Recht und internationale Abkommen verstoßen. Aktuell praktikabler erscheinen verschärfte Regeln und die konsequentere Durchsetzung bestehender Gesetze, will man die Anzahl der Asylanträge reduzieren, ohne das Grundrecht auf Asyl auszusetzen.
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