Ein „Weckruf“ der SPD-Thüringen vor der Landtagswahl
Neben Sachsen und Sachsen-Anhalt gehört Thüringen mittlerweile zu jenen Bundesländern, in denen die SPD am stärksten gefährdet ist, aus dem Landtag zu fliegen. Auf nur noch sechs Prozent kommen die Sozialdemokraten in der jüngsten INSA-Umfrage zur Landtagswahl am 1. September. Demgegenüber würden 48 Prozent der Befragten entweder die AfD von Björn Höcke oder die Wagenknecht-Partei BSW wählen. Für den Parteiveteranen Wolfgang Tiefensee ein Grund, über eine Kehrtwende nachzudenken.
Der frühere Leipziger OB und Bundesverkehrsminister des Kabinetts Merkel I von 2005 bis 2009 ist seit Dezember 2014 landespolitisch aktiv. Er bekleidet im Freistaat das Amt des Ministers für Wirtschaft und Wissenschaft. Phasenweise war er auch Landeschef der SPD.
Am 10. Januar gab er bekannt, zusammen mit anderen Politikern der Landes-SPD die „Seeheimer Thüringen“ gegründet zu haben. Der auf Bundesebene 1974 gegründete „Seeheimer Kreis“ gilt als die Stimme moderater bis wirtschaftsliberal ausgerichteter Sozialdemokraten. In den 1980er-Jahren waren die „Seeheimer“ vehemente Gegner einer Annäherung an die Grünen und einer Preisgabe des Ziels der Wiedervereinigung.
In Thüringen gehören neben Tiefensee auch Wirtschaftsstaatssekretärin Katja Böhler und mehrere Oberbürgermeister und Landräte zu den „Seeheimern“. Die Gründung erfolgte als „Weckruf“ angesichts der tiefgreifenden Unzufriedenheit und des Vertrauensverlustes bei zahlreichen Bürgern des Freistaates.
Tuchfühlung zu arbeitenden Menschen als Rezept gegen Höcke und Wagenknecht
Dem starken Zuspruch zur Höcke-AfD und zu Sahra Wagenknecht im Freistaat wollen die Seeheimer in Thüringens SPD mit bewusst pragmatischer Politik gegensteuern. Im Gründungsdokument heißt es, man wolle Meinungen der Mehrheitsgesellschaft in stärkerem Maße Rechnung tragen. Man dürfe nicht Themen allein deshalb „rechts liegen lassen“, weil man sich „von rechts nicht treiben lassen“ wolle.
Es gehe, so die Tiefensee-Gruppe in Thüringens SPD weiter, „darum, die Realität der Auffassungen in der Bevölkerung anzuerkennen und sie nicht zu diffamieren“. Die Partei sei gut beraten, „den arbeitsamen, fleißigen Menschen zuzuhören und ihnen eine Stimme zu geben“. Die SPD müsse sich in der Politik auf das „Machbare“ konzentrieren.
Ein Bereich, in dem deshalb eine Politikwende vonnöten sei, sei die Klimapolitik. Tiefensee und seine Mitstreiter mahnen zur Mäßigung beim Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Banner der Bekämpfung des Klimawandels.
Tiefensee will Begriff der „Transformation“ vermeiden und Belastungen mitdenken
Der ehemalige Minister gibt zu bedenken, dass der Begriff der „Transformation“ gerade im Osten seit der Wende „negativ besetzt“ sei. Die deutsche Klimapolitik, so das Ziel der Seeheimer im Freistaat, „verzichtet auf die Rolle des Musterschülers, sie setzt sich zukünftig realistische Ziele“. Man solle, so erklärt er gegenüber der „taz“, „künftig tunlichst vermeiden, die Belastungen für die Menschen nicht mitzudenken“.
Damit spielte Tiefensee auf die heftigen Reaktionen an, die im Vorjahr das Heizungsgesetz hervorgerufen hatte. Es gehe nicht darum, zurückzurudern oder das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 infrage zu stellen, so der Ex-Minister.
„Aber wir befürchten, dass wir dieses Ziel nicht erreichen, weil die Akzeptanz der Bevölkerung verloren geht.“
Dennoch beharrt Tiefensee auf umfassenden öffentlichen Investitionen, um den Umbau zu erreichen. Dazu wolle er auf eine Reform der Schuldenbremse hinwirken.
Seeheimer wollen Migration nach Europa durch Perspektiven in Afrika verhindern
Tiefensees Mitstreiterin Böhler fordert zudem eine „Migrationspolitik, die das Recht auf Asyl nicht aushöhlt, aber besser steuert“. Diese Steuerung müsse „bereits außerhalb der EU-Grenzen einsetzen“. Die von der EU angestrebten Asylverfahren an den Außengrenzen reichten dafür nicht aus, heißt es vonseiten der Seeheimer.
Stattdessen wolle man sich bemühen, Flüchtlinge und Migranten bereits Perspektiven zu geben, bevor sie Europa erreichten. Es werde noch zu weiteren starken Fluchtbewegungen kommen, prognostiziert Böhler. Dies werde allein schon aufgrund des Klimawandels geschehen.
Um den Asylsuchenden aus Afrika selbst Perspektiven zu eröffnen, sollen deshalb sogenannte Future Cities (Zukunftsstädte) entlang den Fluchtrouten entstehen, so die Seeheimer. Dazu müssten EU und Afrikanische Union zusammenwirken. Böhler denkt an gemeinsame Projekte mit den betroffenen Ländern selbst:
„Wir können uns afrikanisch-europäische Städte mit Ansiedlungsanreizen und Sonderwirtschaftszonen vorstellen, wo Unternehmen investieren, Jobs entstehen und Menschen ausgebildet werden.“
Uganda und Ruanda, aber auch die Türkei kennen bereits solche „Future Cities“
Zu den afrikanischen Ländern, in denen es bereits Projekte dieser Art gibt, zählen unter anderem Ruanda oder Uganda. Dort werden Asylsuchende vielfach nicht in Lagern oder haftähnlichen Unterkünften untergebracht. Stattdessen entstehen offene Siedlungen, in denen auch Unternehmen entstehen. Im Rahmen von Fluchtbewegungen wurde das Konzept unter anderem auch in vielen türkischen Siedlungen für syrische Flüchtlinge erprobt.
Die Idee, die auch unter dem Wort „Charter Cities“ (zu Deutsch etwa: Vertragsstädte) bekannt ist, wird in ähnlicher Weise von dem in Washington ansässigen Charter Cities Institute vorangetrieben. Dabei geht es auch um Prototypen neuer „Privatstädte“ mit einem eigenen Verwaltungs- und Rechtssystem. Einer der Vordenker der libertären Bewegung ist Titus Gebel, Präsident der Free Cities Foundation.
Auf Grenzen stoßen die Siedlungsprojekte mit Flüchtlingen häufig infolge von Engpässen im Bereich der Finanzierung und der fehlenden Planungssicherheit. Obwohl es sich dabei vielfach um öffentlich-private Partnerschaften handelt, reichen häufig die Mittel nicht aus, um den Umfang der Fluchtbewegungen zu bewältigen. Außerdem sehen auch Flüchtlinge, die es in solchen Städten zu einem gewissen Wohlstand bringen, ihren dauerhaften Lebensmittelpunkt häufig nicht dort. Der Antrieb, um den Weg ins noch reichere Europa zu suchen, bleibt oft bestehen.
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