Dringend Verstärkung gesucht: Landesverteidigung mit großen Lücken
Um die Landesverteidigung Deutschlands ist es nicht gut bestellt. Das wurde in der vergangenen Woche gerade erst wieder bei der Rede von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Bundestag deutlich. Es ging um den Haushaltsetat des Verteidigungsministeriums. In diesem wurde, trotz der Haushaltskrise der Ampel, nicht gekürzt. Im Gegenteil: Noch nie seit Bestehen der Bundeswehr war der Etat so hoch wie in diesem Jahr. Zusammen mit den Mitteln aus dem Sondervermögen stehen der Bundeswehr 72 Milliarden Euro zur Verfügung.
Pistorius bereitete die Bundestagsabgeordneten trotzdem darauf vor, dass der Verteidigungsetat in den kommenden Jahren voraussichtlich noch einmal nach oben angepasst werden müsse. „Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif“, so der Verteidigungsminister. Die sicherheitspolitische Lage erfordere eine Bundeswehr, die stark sei und abschrecke: „Krieg verhindern kann nur, wer sich darauf vorbereitet.“
Von Sollstärke weit entfernt
Eine ausreichende personelle Ausstattung der Bundeswehr sei dabei „ein ganz entscheidender Faktor, um unsere Einsatzbereitschaft und damit die Sicherheit der Bundesrepublik und ihrer Partner sicherzustellen“, so der Minister. Und genau hier stößt die Truppe an ihre Probleme: Von ihrer Sollstärke von 203.300 Soldatinnen und Soldaten ist die Armee sehr weit entfernt.
Bis 2031 wollte die Bundeswehr eigentlich genau diese Truppenstärke erreicht haben. Ausgegeben wurde dieses Ziel noch unter der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Bis zum Jahr 2024, so hieß es damals aus dem Ministerium, solle die Stärke der deutschen Streitkräfte auf 198.000 Soldatinnen und Soldaten angestiegen sein. Dass diese Zielmarke in diesem Jahr erreicht wird, muss man bezweifeln.
Im Dezember 2023 taten rund 181.514 Soldaten ihren Dienst in der Bundeswehr. Das sind gut 1.500 Truppenangehörige weniger als zum Jahresende 2022. Anstatt sich der Zielmarke zu nähern, entfernt man sich eher. Das ist schon seit Jahren so. Im Juli 2020 lag die Truppenstärke erstmals seit 2013 wieder über 185.000, das war allerdings nur ein Ausreißer. Danach sanken die Zahlen dann wieder.
Dass es schwer werden kann, im Jahr 2031 eine Truppenstärke von 203.300 Soldatinnen und Soldaten zu erreichen, ist inzwischen auch der Bundeswehr selbst klar. Auf ihrer Website kann man daher zum Thema lesen:
Das Ziel, den Umfang der Streitkräfte bis zum Jahr 2031 deutlich auf 203.300 Soldatinnen und Soldaten zu erhöhen, erscheint vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der sich verschärfenden Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt ambitioniert.“
Taskforce soll für Personalschub sorgen
Verteidigungsminister Pistorius hat nun seit Anfang des Jahres auf diese Situation reagiert. Im vergangenen Jahr hat sein Ministerium einen Maßnahmenkatalog entwickelt, der mit mehr als 60 Einzelmaßnahmen, die jetzt in Kraft getreten sind, für einen Personalschub in der Truppe sorgen soll. Die Taskforce, die den Aktionsplan ausgearbeitet hat, dämpft allerdings schon kurz nach dem Start die Erwartungen.
Durch die angestrebte „Reduzierung von Überkomplexität in Verfahren und Prozessen sowie die Stärkung von Entscheidungsbefugnis und Verantwortung vor Ort durch Flexibilisierung, Deregulierung und Regionalisierung“, so heißt es in dem vertraulichen Papier, über das die „Welt“ berichtet, solle zunächst der „Trend der negativen Bestandsentwicklung“ umgekehrt und ein „moderater Aufwuchs“ erreicht werden.
Der große Sprung nach vorn ist also nicht zu erwarten, schon gar nicht kurzfristig. Es gibt in diesem Zusammenhang allerdings noch einen weiteren Aspekt, den man im Blick haben muss: Die angestrebten 203.300 Soldatinnen und Soldaten sind eine politische Zahl und vor allem schon viele Jahre alt. Die Welt hat sich seitdem geändert. Nicht zuletzt durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sind der Bundeswehr nun auch andere Aufgaben im Rahmen des NATO-Bündnisses erwachsen.
Beispiele dafür sind der Raketenschirm Arrow 3, die Flugabwehr im Nah- und Nächstbereich oder eine neu aufzustellende Brigade für die feste Stationierung in Litauen. Auch der Bedarf an Reservisten stieg in den vergangenen zwei Jahren, weil der Aufwuchsfähigkeit der Truppe im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung wieder größerer Stellenwert zukommt.
Modell Schweden auch ein Weg für Deutschland?
Deshalb weist die Taskforce auf „perspektivische Handlungs- und Gestaltungsräume“ hin, zu denen „die Einführung eines gesamtgesellschaftlich verankerten Dienstmodells“ zur „zielgerichteten Erweiterung der Gewinnungsbasis für die Bundeswehr“ zähle. Dass es im Ministerium Überlegungen über die Einführung einer Dienstpflicht gebe, das hatte Verteidigungsminister Pistorius schon im Dezember in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ bestätigt. Rückblickend sei die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 ein Fehler gewesen, sagte Pistorius damals im Interview. Diese jetzt einfach wieder einzuführen, sei „strukturell, verfassungsrechtlich und politisch schwierig“. Daher schaue man nach anderen Modellen.
Im Papier der Taskforce wird ausführlich das Modell Schweden beschrieben. Das hatte Pistorius auch in seinem Interview im Dezember als Alternative zur Wiedereinführung der Wehrpflicht benannt. Schweden hat seine 2010 ausgesetzte Wehrpflicht 2017 „aufgrund eines anhaltenden Mangels an freiwilligen Bewerbenden für die Streitkräfte wieder eingeführt“ und auf Frauen ausgeweitet.
Seitdem werden alle schwedischen Staatsangehörigen zu ihrem 18. Geburtstag angeschrieben und verpflichtet, an einer Online-Befragung teilzunehmen. „Darin werden Angaben zur derzeitigen Lebens- und Ausbildungssituation gefordert und Fragen zum grundsätzlichen Interesse an und einer Eignung für eine Verwendung in den schwedischen Streitkräften gestellt“, schreibt die Taskforce.
Auf der Grundlage von medizinischer Eignung und persönlicher Motivation werde dann ein Teil des Jahrgangs zur Musterung einbestellt und rekrutiert. Ein „sehr hoher Anteil“ trete dabei freiwillig in die Streitkräfte ein, so die Taskforce, jedenfalls werde „die Auseinandersetzung junger Menschen mit ihrer eigenen Rolle im Rahmen der Mitgestaltung der Sicherheit ihres Landes“ gefördert.
Keine Mehrheit in Pistorius‘ eigenen Reihen
Ein solches Modell benötigte aber am Ende Mehrheiten im Bundestag. In der Ampel gibt es dafür im Moment keine Mehrheiten. Die anvisierten 203.300 Soldaten seien lediglich ein „öffentlich kommunizierter Richtwert, an dem sich das Verteidigungsministerium orientiert“, behauptet Wolfgang Hellmich, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion gegenüber der „Welt“. Die Vorschläge der Taskforce würden zum Erfolg führen. Darüber hinaus gehende Modelle bräuchten viel Zeit, bis sie Resultate bringen, bügelt Hellmich solche Überlegungen ab. Dass SPD-Minister Pistorius genau über solche Modelle nachdenkt, ignoriert der SPD-Politiker.
Auch die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Sara Nanni, setzt völlig auf das Maßnahmenbündel der Taskforce. „Wenn sich allein ähnlich viele Frauen bei der Bundeswehr bewerben würden wie Männer, hätten wir kein Problem in der Landes- und Bündnisverteidigung“, so Nanni. Die Einführung einer Dienstpflicht sei eine „Gefahr für das Ansehen der Bundeswehr“. Und Nanni gegenüber der „Welt“ weiter:
Am Ende führt jede Form der Wehrpflicht dazu, dass junge Leute eingezogen werden können, die nicht bei der Bundeswehr dienen wollen. (…) Jeglicher Zwang aber könnte dazu führen, dass wir die aktuell große Zustimmung für die Streitkräfte auch in der jüngeren Generation kaputt machen.“
Auch die FDP gibt sich ablehnend. Marcus Faber, Verteidigungspolitiker der FDP, sieht durch den Personalmangel zwar „die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte und somit die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bedroht“, lehnt eine allgemeine Dienstpflicht aber strikt ab: „Statt unverhältnismäßig in die Freiheit junger Menschen einzugreifen, sollten wir neue Anreize für den Eintritt in die Bundeswehr auf den Weg bringen.“
Dienstpflicht eine „valide Option“
In der Opposition hingegen steht man den Ideen Pistorius weit aufgeschlossener gegenüber. Florian Hahn (CSU), der verteidigungspolitische Sprecher der Union, sieht in den Maßnahmen der Taskforce nur den Versuch, „den freien Fall im Abwärtstrend zu bremsen“. In der Einführung einer Dienstpflicht zur Stärkung des Heimatschutzes sieht Hahn eine sehr „valide Option“.
Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, hält „einen Friedensumfang von mindestens 230.000 Soldaten für zweckmäßig und realistisch“. Zusätzlich brauche es eine in die aktiven Verbände integrierte Reserve von mindestens 100.000 Mann, die Hälfte davon als stehendes Reservistenkorps mit verpflichtendem Dienst. Dafür sei die Wehrpflicht nötig. „Alle Maßnahmen seit Aussetzung der Wehrpflicht haben den Personalmangel nicht lösen können“, so Lucassen. „Nur ihre Reaktivierung sorgt für eine ausreichende Personalgewinnung und eine starke Reserve.“
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