Digitale Wahlhelfer mit Tücken
Immer mehr Bundesbürger fragen sich, für welche Partei sie am 26. September ihr Kreuz machen sollen. Als potenzielle Unterstützung bei der Suche nach der individuellen Partei-Präferenz gilt der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung, der am Donnerstag gestartet ist. Für die ebenfalls am 26. September stattfindenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin und zum Landtag in Mecklenburg-Vorpommern ist das kostenlose interaktive Tool bereits seit Längerem verfügbar.
Erstmals kam der Wahl-O-Mat 2002 zum Einsatz, als Gerhard Schröder (SPD) die Wahl knapp gegen seinen CSU-Herausforderer Edmund Stoiber gewann. Insgesamt wurde er seither mehr als 85 Millionen Mal genutzt. Allein bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 haben ihn 15,7 Millionen Menschen angewendet. Der Zweck des digitalen Wahlhelfers besteht laut Bundeszentrale für politische Bildung darin, „über die wichtigsten Wahlkampfthemen zu informieren.“
Ob Tempolimit, Begrenzung für Mieterhöhungen, Abschaffung des Familiennachzugs oder Windenergie. Nutzer können sich zu 38 Thesen positionieren, die sie per Klick mit „stimme zu“, „stimme nicht zu“, „neutral“ oder „These überspringen“ markieren können. Anschließend können Thesen, die dem Nutzer besonders wichtig erscheinen, doppelt gewichtet werden.
Das Ergebnis gleicht der Wahl-O-Mat mit den autorisierten Aussagen der zur Wahl zugelassenen Parteien ab und berechnet die Übereinstimmungen der Wählerantworten mit den Antworten der Parteien. Ein Balkendiagramm zeigt in Prozent, wie weit die Antworten mit einer Partei übereinstimmen.
Wahl-O-Mat prüft nur Partei-Versprechen
Neu ist in diesem Jahr die sogenannte „Tuning“-Option. Sie ermöglicht, die eigenen Positionen und Gewichtungen zu verändern. Erarbeitet werden die Fragen auf Grundlage der aktuellen Wahlprogramme der Parteien von einer Redaktion aus Erst- und Jungwählern in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Journalisten.
Dies bedeutet, dass sich die Themen und Thesen vor allem auf das soziale Umfeld junger Menschen beziehen. Politikwissenschaftler Michael Wehner von der Universität Freiburg bezeichnet die Online-Wahlhilfe vor diesem Hintergrund als „eine Art politisches Parship-Angebot“, wie eine Dating-Seite.
Ein weiteres Manko, das die Aussagekraft des Wahl-O-Mat-Ergebnisses erheblich einschränkt: Er prüft nur, was die Parteien in ihren Wahlprogrammen versprechen. Wer das politische Geschehen beobachtet, möchte indes berücksichtigt wissen, was die Parteien in der Vergangenheit tatsächlich erreicht oder wofür sie überzeugend gekämpft haben. Dies kann der auch als App verfügbare Wahl-O-Mat jedoch nicht leisten.
Ein Selbstversuch nach rund zehn Minuten politischen Datings kommt zu einem ebenso überraschenden wie realitätsfernen Ergebnis. Der Wahl-O-Mat unterstellt eine NPD-Affinität von 70,2 Prozent. Weiter rechts geht nicht – und das, obwohl sich der Autor dieser Zeilen seit vielen Jahren als liberal einstuft. Eine wirkliche Orientierungshilfe sieht anders aus.
„Der Berliner Wahl-O-Mat findet fast alles und jeden ‚rechts‘.“
Ebenfalls verwundert zeigte sich eine Wahl-O-Mat-Testerin aus Mecklenburg-Vorpommern, die als Ergebnis 70 Prozent für die „Partei für Gesundheitsforschung“ angezeigt bekam – eine Partei, von der sie nie etwas gehört hatte. Die Fragen hatte sie zuvor ausschließlich mit „stimme zu“ oder „stimme nicht zu“ bewertet. Von den bereits im Bundestag vertretenen Parteien wurde ihr folgendes Ergebnis angezeigt: AfD 48,8 Prozent, die Grünen 46,3 und FDP 43,8 Prozent. DieBasis kam auf 45 Prozent-Punkte.
Auch hier attestiert der Wahl-O-Mat also, zumindest, wenn man die weitgehend unbekannte „Partei für Gesundheitsforschung“ ausklammert, einen Rechtsdrall. Dies deckt sich auch mit den Erfahrungen einer Autorin der „Welt“, die ihren in der vergangenen Woche erschienen Beitrag so überschrieb: „Der Berliner Wahl-O-Mat findet fast alles und jeden ‚rechts‘.“
Laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ haben hingegen Umfragen ergeben, dass sich 90 Prozent der Nutzer in ihren politischen Vorlieben bestätigt fühlen. Dies bestätigt auch der Chemnitzer Politikwissenschaftler Robin Graichen, der mit seiner kürzlich im Nomos-Verlag erschienenen Dissertation „Was taugt der Wahl-O-Mat?“ die erste wissenschaftliche Studie veröffentlicht hat.
Graichen hat anhand der Daten von 40 Wahlen zwischen 2002 und 2017 untersucht, inwiefern die darin abgebildeten Parteipositionen den tatsächlichen Wahlprogrammen entsprechen. Das Fazit des 417 Seiten umfassenden Werks: „Der Wahl-O-Mat taugt als zuverlässiges Tool zur Wahlentscheidungshilfe.“
Alternative Digital-Lotsen durch den Polit-Dschungel
Wer sich dennoch nicht ausschließlich auf den Wahl-O-Mat verlassen will, findet alternative Online-Wahlhelfer.
DeinWal etwa berücksichtigt statt der Wahlpositionen der Parteien die Abstimmungshistorie im Bundestag. Die ebenfalls kostenlose Entscheidungshilfe zeigt, wie Union, SPD, Grüne, FDP & Co. in der letzten Legislaturperiode wirklich abgestimmt haben. Dieses gleicht der Online-Wahlhelfer mit dem Abstimmungsergebnis ab, das der Nutzer im Vorfeld via Daumen hoch oder nach unten gemacht hat.
Der große Vorteil: Die Parteien werden nicht an ihren – möglicherweise nicht einlösbaren – Versprechen, sondern an ihren realen Entscheidungen aus dem Bundestag gemessen.
Das dreiköpfige Team hinter DeinWal arbeitet am Max-Planck-Institut für demografische Forschung und hat aus den über 200 Bundestagsabstimmungen in den Jahren 2017 bis 2021 25 Fragestellungen ausgewählt. Tracking-Dienste wie etwa Google-Analytics kommen nach Angaben des Entwickler-Trios nicht zum Einsatz.
Einziger Wermutstropfen: Da DeinWal auf tatsächlichen Bundestagsabstimmungen basiert, sind nur die Parteien vertreten, die die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen haben. Kleine Parteien stehen somit nicht zur Auswahl.
Antworten nach dem Tinder-Prinzip
Mit Wahltraut können sich Unschlüssige im Vorfeld der Bundestagswahl informieren, welche Parteien besonderen Wert auf die Themen Gleichstellung, Antirassismus, Rechte von LGBTQ+ und Inklusion legen. Die Antworten basieren auf den eigenen Aussagen der großen Parteien, die für den Bundestag kandidieren.
12 Themenbereiche mit insgesamt 32 Fragen haben die Gründerinnen Sally Lisa Starken und Cordelia Röders-Arnold ausgearbeitet. Die Antworten von Wahltraut basieren auf den eigenen Aussagen der großen Parteien, die für den Bundestag kandidieren. Die knapp 60 Thesen entstanden in Zusammenarbeit mit einem unabhängigen Gremium, darunter UN Women Germany und Doctors for Choice.
Ein weiteres Tool ist der vom Verein Voteswiper entwickelte WahlSwiper, der kostenlos im Internetbrowser oder via App erhältlich ist. Das Projekt wird laut den Gründern durch Fördermitgliedschaften und Spenden finanziert. Nach dem Tinder-Prinzip können Nutzer bei ihrer Stellungnahme zu politischen Themen nach links („Nein“) oder rechts („Ja“) wischen („swipen“). Zudem besteht die Möglichkeit, Fragen zu überspringen, wenn man sie nicht beantworten möchte.
Nutzer müssen sich genau festlegen: Ein „neutral“ wie beim Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es hier nicht. Die Fragen des WahlSwiper basieren auf einer Kooperation mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und weiteren Universitäten oder Organisationen, unter anderem der Ludwig-Maximilians-Universität München oder dem United Nations Society Nürnberg. Berücksichtigt werden alle zur jeweiligen Wahl zugelassenen Parteien, die die Fragebögen beantwortet haben.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung.
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