„Das Ende der bürgerlichen Mitte, wie wir sie kannten“
Das Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus in Heidelberg hat einst die sogenannten Sinus-Milieus als Methode der Zielgruppenanalyse erschaffen. Das war Ende der 1970er-Jahre. „Telepolis“, das Onlinemagazin des Heise Zeitschriften Verlags, beschrieb die Sinus-Milieus 2009 als einen Ersatz für die sozialen Schichten bei der Beschreibung der Gesellschaftsstruktur. Es gebe unterschiedliche Lebensstile: Konservative, Traditionsverwurzelte, Etablierte, DDR-Nostalgiker, Angehörige der bürgerlichen Mitte, Konsum-Materialisten, Post-Materielle, moderne Performer, Experimentalisten und Hedonisten. Diesem marketingorientierten Modell schlossen sich demnach auch Parteien, Medien, Soziologen und auch die Werbeagenturen an.
Doch nichts ist mehr, wie es einst war. In einer Pressemitteilung erklärte das Sinus-Institut das „Ende der bürgerlichen Mitte, wie wir sie kannten“. Die neuen „Sinus-Milieus 2021“ bilden demnach die neue Alltagswirklichkeit der „Gruppen Gleichgesinnter“, Milieus genannt, ab. Diese sieht Sinus „geprägt durch politische Umbrüche, Digitalisierung, populistische Bewegungen und klimatische Extremereignisse“ und fragt sich: Was bewegt die verschiedenen Lebenswelten in unserer Gesellschaft? Doch das Institut geht als Zielgruppenforscher besonders der Frage nach, wie man diese Lebenswelten etwa durch Mediennutzung, Kommunikationspräferenzen und Bildungsprogramme bewegen könne.
Ist die bürgerliche Mitte am Ende?
Die Milieu-Landschaft in Deutschland verändere sich durch „Spannungen und Neuformierung in der Mitte“, wobei die größte sozio-kulturelle Dynamik derzeit von der Mitte der Gesellschaft ausgehe: „Die Lebens- und Wertewelten driften auseinander.“
Während der statusoptimistische Teil sich modernisiere und nach oben blicke, sehe der Harmonie-orientierte und größere Teil seinen Lebensstil und seine Prinzipien gesellschaftlich entwertet. Man ziehe sich verbittert zurück und grenzt sich verstärkt nach unten und nach oben ab. Der gesellschaftliche Zusammenhalt nehme ab, weil der Glaube an kontinuierliche Wohlstands- und Sicherheitsgewinne erodiere.
Laut dem Sinus-Institut gebe es neue Leitmilieus, deren Einfluss stärker werde: „An der Spitze ist eine neue kosmopolitische Elite entstanden.“ Auch ältere, traditionelle Lebenswelten hätten sich teilweise modernisiert. Die Akzeptanz pluralisierter Lebensformen und von Diversität habe zugenommen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Sinus-Milieu-Studie für die Schweiz, in der laut dem Institut die „Bürgerliche Mitte“ noch vorhanden ist – oder anders ausgedrückt: noch nicht zersetzt wurde.
Adaptiv-pragmatisches Milieu rückt nach
Ins Zentrum des gesellschaftlichen Mainstreams sei anstelle der abstiegsbesorgten Gruppe der „Bürgerlichen Mitte“ eine von Sinus als „Adaptiv-Pragmatisches Milieu“ klassifizierte Gleichgesinnten-Gruppe, worunter das Sinus-Institut nun einen modernen Mainstream versteht, der sich aus „Anpassungs- und Leistungsbereitschaft, Nützlichkeitsdenken, aber auch Wunsch nach Spaß und Unterhaltung“ zusammensetzt. Dieser habe ein starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit bei gleichzeitig wachsender Unzufriedenheit und Verunsicherung aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie selbst würden sich als „flexible Pragmatiker“ sehen, meint Sinus.
Weil jedoch Nachhaltigkeit und Klimaschutz an Bedeutung gewännen, würden die Liberal-Intellektuellen und die Sozialökologischen zum neuen Postmateriellen Leitmilieu verschmelzen. Neu seien auch die Neo-Ökologischen, zumindest neuentdeckt von Sinus. Sie verstünden sich als Treiber der gesellschaftlichen Transformation und setzten auf globale Vernetzung, sozialen Mehrwert und die Postwachstumsgesellschaft. Diese Milieu-Gruppe habe einen besonders bunten Wertecocktail, schreibt das Institut: „progressiv und realistisch, pragmatisch und experimentierfreudig, erfolgsorientiert und partybegeistert, zielstrebig und gelassen“ – alles gleichzeitig, wie es heißt.
Man beobachte auch den Rückzug der hedonistischen Mentalität in den Milieus, was Sinus als Ende der viel zitierten „deutschen Spaßgesellschaft“ ausruft. Der Teil der Hedonisten, der sich auf Konsum und Entertainment fokussierte, verstehe sich nun als Teil der neuen Mitte. Man sehe sich als „Bollwerk gegen einen übertriebenen Nachhaltigkeits-Hype“.
Was sind die neuen „Milieus“?
Laut dem Sinus-Institut und aus der sozialwissenschaftlichen Sicht besteht die Gesellschaft in Deutschland derzeit aus zehn sogenannten Sinus-Milieus, die sich in einem Umfeld aus Grundorientierungen (Tradition, Modernisierung, Neuorientierung) und sozialen Lagen (Unterschicht/Untere Mittelschicht, Mittlere Mittelschicht, Obere Mittelschicht/Oberschicht) einordnen lassen – mit schwimmenden Übergängen:
In der oberen und oberen mittleren Gesellschaftsschicht unterscheidet das Sinus-Institut in Konservativ-Gehobenes Milieu (11 %), Postmaterielles Milieu (12 %), Milieu der Performer (10 %), Expeditives Milieu (10 %) und in der Mittelschicht und Anteilen in der unteren Mittelschicht/Unterschicht in Traditionelles Milieu (10 %), Nostalgisch-Bürgerliches Milieu (11 %), Adaptiv-Pragmatische Mitte (12 %), Konsum-Hedonistisches Milieu (8 %) sowie das Neo-Ökologische Milieu (8 %). In der Unterschicht befindet sich demnach hauptsächlich das Prekäre Milieu (9 %).
Weitere Definitionen zu den verschiedenen Milieu-Typen – aus Sicht des Sinus-Instituts – finden Sie HIER.
Sinus was? Und wozu?
Laut der aktuellen Erklärung würden die Sinus-Milieus der differenzierten Beschreibung von Kunden- und Käufergruppen dienen. Zudem gehe es um die gezielte Positionierung von Produkten und Dienstleistungen in definierten Marktsegmenten und das Aufspüren von Marktnischen. Die effiziente Ansprache von Käuferpotenzialen und die Früherkennung und Lokalisierung von neuen Motivationen und Verfassungen gehöre laut Sinus auch dazu.
Nach Eigenangaben arbeite Sinus für führende Markenartikelhersteller und „renommierte öffentliche Auftraggeber“ aus Politik (nicht näher aufgeführte Parteien), öffentlich-rechtliche Medien (ARD, ZDF, SWR, WDR, MDR etc.) und Gesellschaft. Bundes- und Landesministerien werden beispielsweise genannt, Stiftungen, Kirchen, Verbände und auch NGOs, wie etwa Greenpeace oder Wohltätigkeitsorganisationen, aber auch Audi, BMW, Coca-Cola, Commerzbank, Der Spiegel, Ernst & Young, Pfizer, und so weiter …
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