Die Nacht gehört den Büchern

Eine gute Nacht-Geschichte von der Frankfurter Buchmesse, nicht nur für Kinder
Titelbild
Nahezu 6.900 Aussteller aus über 100 Ländern sind in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. (John Macdougall/AFP/Getty Images)
Von 17. Oktober 2009

Wenn die Nacht einsetzt über der Frankfurter Buchmesse, dann flüchten die Menschen. Ist auch Zeit dafür. Am Tag machen sie sich wichtig, scharwenzeln herum, schwänzeln um die Bücher, begehen die Gänge zwischen den Messehallen, sitzen sie zu, verschwätzen sie und drücken sich die Daumen an der Sonderausgabe der Frankfurter Allgemeinen schwarz. Aber die Nacht: Die Nacht gehört den Büchern.

Endlich sind sie unter sich und können sich in vollem Glanz präsentieren, ohne störendes Menschenmaterial zwischendrin, das die freie Sicht zum nächsten entzückenden Buchrücken nebenan verstellt. Und das Grapschen können sie auch nicht lassen, die Menschen. Bei den Fühlbüchern mag das noch angehen, gut, die stehen auf so was. Aber es kann mir keiner erzählen, dass Frank Schätzings „[Limit]“ nur wegen des tollen Einbands so oft angetatscht wird. Bei dem hässlichen Einband – also, in Buchkreisen kein Hingucker, unter uns gesagt. Das ist kein Spiegel des – ja, das haben auch die Bücher mitbekommen – deutschen Richard Gere-Verschnitts  mit hippem Bart, der sich für eine Billigmodekette nur in Unterhosen hat ablichten lassen. Wann werden das die Bücherfuzzis und vor allem die -fuzzas jemals verstehen, dass man ein Buch doch am Einband beurteilt?

Egal. Viel lustiger ist es ohnehin dort, wo die richtige Party losgeht, wenn die Zugreifer, Ab- und Vorleser endlich nicht mehr durch die Hallen geistern und auch die länger gebliebenen, vom Champagner furchtlos gemachten Feiernden die Verlagsstände verlassen haben. So ab 21 Uhr etwa haben sich auch die mutigsten Störenfriede davon gemacht. Die wissen: Die Nacht gehört den Büchern.

Und dann raschelt´s auch schon im Karton. Da steppt der kleine Eisbär mit dem Regenbogenfisch, der sich endlich ein paar seiner Schuppen entledigen kann. Heidi schnappt sich den ungepflegten Struwwelpeter, der seiner allzu frischen chinesischen Übersetzung entschlüpft ist. Seit diesem Jahr ist der gute Peter mehrsprachig unterwegs. Die chinesische Version, so sagt er, verlässt er wegen des Gastlands der diesjährigen Buchmesse. Und struwwelt sich zielsicher einen Stock höher, wo er beginnt, mit seinen langbefingernägelten Händen eine Armee von Buchstaben, die auf ihn wartet, zu dirigieren. Auf ein unsichtbares Kommando haben sie sich zu dieser Aktion aus den Büchern davongestohlen, lang war das Ganze bereits verabredet.

Man sieht eine Welle an A´s herüberschwappen im hellen Schein der eigenen Vokalität, sie branden von überall heran, aus Klett Cottas Herr der Ringe, aus Werken von Herder, Kiepenheuer & Witsch, Rowohlt, Fischer, Hanser, … Alle sind sie da, wollen sich das Spektakel nicht entgehen lassen, zu dem auch schon die G´s heranstolziert kommen, mit dem ganzen Schmelz, den nur ein Konsonant entwickeln kann, der den Anfangsbuchstaben des Erfinders des Buchdrucks bildet. Es sind Millionen und Abermillionen, die sich zusammenfinden, und – ja, just als das Schauspiel kaum noch zu überbieten scheint, entfesseln sich die Doppel-P´s in gleicher Menge aus den Büchern und formieren sich unter dem Dirigat des Struwwelpeters in Marschordnung. G A P P*, millionenfach.

Im Marschtakt der Marseillaise bewegen sie sich Schulter an Schulter hinüber zur China-Halle, ein Pfeifen auf den Serifen. Als sie am Ziel ankommen, staunen sie nicht schlecht: Die chinesischen Bücher wirken vertraut, die Schriftzeichen wie weise Vorfahren, doch gramgebeugt die meisten, verkürzt, verbogen, verwüstet. Da raunt es in dem Millionenheer. Es hätte doch ein Spaß werden sollen, man habe sich doch nur ein wenig lustig machen wollen über die Kollegen, indem man sich zur Abkürzung für die chinesische Zensurbehörde formiert, wird ein großes A aus der viertausendachtundsiebzigsten Reihe später beim Interview im Buchstaben-Pressezentrum erzählen, umringt von der internationalen Buchstabenpresse. Dass die chinesischen Schriftzeichen in einem dermaßen schlechten Zustand seien und für derlei Späße keinen Sinn hätten, habe man trotz einiger Aussagen einiger Buchstaben, die Dunkles verkündet hatten, nicht ahnen können.

Und so rauschen die G A P P-Helden wieder ab, ein unterstrichen-bitterer Nachgeschmack bleibt ihnen. Man hatte sich doch gut unterhalten wollen! Daraus wurde wohl nichts. Und auch der Struwwelpeter hatte schon mal bessere Auftritte, sind auch die chinesischen Schriftzeichen in der mehrsprachigen Ausgabe in der Kinderbuchhalle überzeugt. Sei´s drum. Es ist ja nicht die letzte Nacht auf der Buchmesse, die den Büchern gehört. Und der kleine Eisbär wird auch morgen wieder steppen.

 

 

*GAPP in China ist die Abkürzung für General Administration of Press and Publication.



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