Deutschlands Asylkrise 2023 in ihrer ganzen Dimension

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte es von Januar bis Oktober 2023 mit mehr als 350.000 Asylanträgen zu tun. Das sind 51,13 Prozent mehr Erstanträge als im Vorjahr und fast doppelt so viele wie im Jahr 2021. Vollzogene Abschiebungen gab es gut 13.000.
Titelbild
Das Symbolbild zeigt Asylbewerber inmitten von Wohnblöcken der Zentralen Ausländerbehörde Brandenburgs (ZABH) in Eisenhüttenstadt.Foto: ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images
Von 9. Januar 2024

Im Schatten der bundesweiten Proteste gegen die Ampelregierung legte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg am 8. Januar seine Asylstatistik für das Jahr 2023 vor. Demnach hatte sich die weltweit größte Asylbehörde im 70. Jahr ihres Bestehens mit insgesamt 351.915 Asylanträgen auseinanderzusetzen.

329.120 davon seien Erstanträge gewesen, darunter 22.603 Fälle von Kindern unter einem Jahr, die bereits in Deutschland zur Welt gekommen waren. Bei den übrigen 22.795 Anträgen habe es sich um Folgeanträge gehandelt, schreibt das BAMF. Von einem Folgeantrag spricht man, wenn eine Person nach einem abgelehnten oder zurückgezogenen Asylantrag einen neuen Antrag stellt.

51,13 Prozent mehr Erstanträge als im Vorjahr

Da es im Vorjahr 2022 lediglich 217.774 Erstanträge unter den damals insgesamt 244.132 Anträgen gegeben habe, bedeutet das in dieser Hauptkategorie eine Steigerung von 51,13 Prozent. Im Vergleich zum Coronajahr 2021, als laut „Statista“ alles in allem 190.816 Asylanträge gestellt worden waren, brachte das Jahr 2023 damit fast eine Verdoppelung des Andrangs.

Mehr Anträge als 2023 waren in der Geschichte der BRD erst dreimal gestellt worden, nämlich während des Jugoslawienkriegs 1992 und in den Jahren 2015 (476.649 Fälle) und 2016 (745.545 Fälle), den ersten großen Jahren der Migrationskrise. In der Dekade seit 2014 waren insgesamt gut 2,9 Millionen Erst- oder Folgeanträge gestellt worden.

Bei all dem nicht eingerechnet ist die Zahl der mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die in Deutschland keinen Asylantrag zu stellen brauchten, aber dennoch einen Anspruch auf Logis und Versorgungsleistungen besitzen. Ebenfalls nicht berücksichtigt wurde die Anzahl der Familiennachzüge. Dieser brachte nach Informationen des „Tagesspiegel“ allein im ersten Halbjahr 2023 rund 77.000 neue Einwohner. Hochgerechnet auf das Gesamtjahr, wären es etwa 150.000 und damit ein neuer Rekord.

Kritische Stimmen wurden vorwiegend aus den Reihen der Union laut: „Die Bundesregierung bekommt die Migrationskrise nicht in den Griff“, sagte etwa die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz (CSU) – und forderte „einen neuen Deal mit der Türkei“. Ein Sprecher des internationalen Flüchtlingshilfswerks UNHCR zeigte dagegen Verständnis für die Zuflucht Suchenden.

Stärkste Herkunftsländer: Syrien, Türkei, Afghanistan

Auch zwölf Jahre nach Beginn der Kämpfe in Syrien, die 2011 im Rahmen des „arabischen Frühlings“ entflammt waren, bilden die Syrer laut BAMF die größte Gruppe der Einreisewilligen. Mit 102.930 Fällen machen sie beinahe ein Drittel aller Erstantragsteller des Jahres 2023 aus. Dazu kamen 1.631 Folgeanträge. Nach Angaben der „Welt“ waren zwischen 2017 und 2021 jeweils maximal 55.000 Syrer zwecks Asylantrag nach Deutschland gereist.

Zur mittlerweile zweitstärksten Antragstellergruppe stiegen die Türken auf: 61.181 Erstanträge auf Asyl zuzüglich 1.443 Folgeanträge bedeuten 62.624 Versuche, dauerhaft in Deutschland leben zu können. Auf Platz drei der Erstantragsteller rangieren die Afghanen (61.275 Erst- plus 2.307 Folgeanträge).

Erst mit großem Abstand folgen in der Jahresstatistik Iraker (12.360 Asylanträge insgesamt), Iraner (10.206), Georgier (9.399), Menschen aus der Russischen Föderation (9.028), Somalia (5.773) und Eritrea (4.230). „Ungeklärt“ blieb die Staatsangehörigkeit bei 4.299 Antragstellern.

„Gesamtschutzquote“ 2023 bei 51,7 Prozent

Längst nicht alle ihrer Asylanträge wurden beim BAMF final entschieden: Nur in 261.601 Fällen fand das Amt einen Abschluss. Der fiel 126.324 Mal nicht unbedingt im Sinne der Asylantragsteller aus: 61.778 Anträge wurden abgelehnt, 64.546 weitere Fälle „entfielen auf sogenannte sonstige Verfahrenserledigungen (z. B. Dublin-Verfahren oder Verfahrenseinstellungen wegen Rücknahme des Asylantrages)“, wie das BAMF berichtet.

Die „Gesamtschutzquote“ für das Jahr 2023 habe somit bei 51,7 Prozent gelegen. Mit anderen Worten: Mehr als jeder zweite Asylantragsteller durfte offiziell bleiben. Das galt hauptsächlich für Leute aus Syrien und Afghanistan. Menschen aus der Türkei erhielten nur zu 13 Prozent einen offiziellen Schutzstatus.

13.512 Abschiebungen geglückt

Das heißt allerdings nicht, dass der Rest Deutschland wieder den Rücken gekehrt hätte. Nach Angaben der „Tagesschau“ waren den Behörden von Januar bis Oktober 2023 genau 13.512 Abschiebungen gelungen, zumeist nach Österreich, Georgien, Nordmazedonien, Moldau und Albanien. Außerdem habe es lediglich 23.872 „freiwillige Ausreisen“ gegeben: „Die meisten Rückkehrer waren türkische Staatsangehörige, gefolgt von albanischen, mazedonischen und georgischen Staatsbürgern“, schreibt die „Tagesschau“.

Einer erfolgreichen Abschiebung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht stünden häufig „familiäre, humanitäre oder gesundheitliche Gründe oder auch eine ungeklärte Identität oder die Weigerung des Herkunftsstaates, Staatsangehörige zurückzunehmen, […] entgegen“.

Eigentlich ausreisepflichtig seien laut „Tagesschau“ gemäß Ausländerzentralregister Ende Oktober 2023 gut eine Viertelmillion Personen. 201.084 unter ihnen besäßen eine Duldung. Ende 2022 seien insgesamt 304.308 Personen ausreisepflichtig gewesen, davon 248.145 Personen mit und 56.163 Personen ohne Duldung.

100 Antragsteller – vier Abschiebungen

Gemessen an der Gesamtanzahl der 2023er-Asylanträge, bedeutet das Jahr 2023 einen Netto-Zuwachs der Bevölkerungszahl von etwa 300.000 Einwohnern.

Wenn man die Geburts- und Sterbedaten unberücksichtigt lässt, hatte die Bundesrepublik allein 2023 also offiziell eine zusätzliche Zahl an Menschen zu versorgen, die in etwa der Größenordnung von Städten wie Karlsruhe oder Mannheim entspricht. Anders ausgedrückt: 100 Menschen, die Asyl begehrten, standen noch nicht einmal vier Menschen gegenüber, die das Land wieder zwangsweise verlassen mussten.

Dennoch markierte das Jahr 2023 laut „Tagesschau“ wieder einen leichten Zuwachs, was die Anzahl der Abschiebungen anging: In den drei Coronajahren zuvor waren jeweils deutlich weniger Personen wieder ins Ausland verbracht worden.

In den Jahren 2015 bis 2019, unmittelbar nach der Weigerung von Altkanzlerin Angela Merkel (CDU), die Grenzen wenigstens für illegale Migranten zu schließen, hatten die absoluten Abschiebezahlen jeweils beinahe doppelt so hoch gelegen.

Die Grafik zeigt die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland der vergangenen Jahre. Die Zahl für das Jahr 2023 bezieht sich nur auf das erste Halbjahr.

Die Grafik zeigt die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland der vergangenen Jahre. Die Zahl für das Jahr 2023 bezieht sich nur auf das erste Halbjahr. Foto: Bildschirmfoto/Statista

Ex-Verfassungsrichter sieht massenhaften Rechtsmissbrauch

Apropos illegal: Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier (80), der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte erst Ende November in einem „Welt“-Interview klargestellt, dass „bei vielen – nicht bei allen – Asylantragstellern in Deutschland“ von vorneherein ein „Rechtsmissbrauch“ vorliege. Deutschland sei ringsum „ausnahmslos von sicheren Drittstaaten umgeben“, und zudem habe man ja gerade „Grenzkontrollen eingeführt“, betonte der Jurist. „Doch was nutzen die, wenn sie nicht zu Zurückweisungen führen?“ Einer Drittstaatenregelung steht Dr. Papier positiv gegenüber.

„Welt“-Autor Marcel Leubecher bestätigte, dass getreu dem Asylrecht gemäß Paragraf 16a (2) des Grundgesetzes „nur noch jährlich rund 1.000 an den Flug- und Seehäfen ankommende Schutzsuchende die Möglichkeit“ hätten, Asyl zu beantragen. Die Bundesregierung habe die Kompetenz allerdings schon lange „auf die EU-Ebene übertragen, sodass dieser Asylkompromiss heute de facto nicht mehr angewendet wird. In der Regel wird also ins Land gelassen, wer bei seiner unerlaubten Einreise angibt, Asyl zu suchen.“

Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) können nur „politisch Verfolgte“ überhaupt ein Recht auf Asyl in Deutschland erlangen, und das auch nur, wenn sie „im Falle der Rückkehr in ihr Herkunftsland einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung ausgesetzt“ wären.

Als „politisch verfolgt“ gelten Menschen, die aufgrund ihrer Rasse, Nationalität, politischen Überzeugung, religiösen Grundentscheidung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden, „ohne eine Fluchtalternative innerhalb des Herkunftslandes oder anderweitigen Schutz vor Verfolgung zu haben“. Krieg oder Armut sind nach Angaben des Flüchtlingsrats Niedersachsen jedenfalls kein Fluchtgrund, der ein Asylrecht mit sich bringen würde – bestenfalls „subsidiären Schutz“ vor Krieg oder Hunger.

Laut „Statista“ plante der Bund für das Jahr 2023 mit Kosten „für Flüchtlinge und Asyl in Höhe von ca. 27,6 Milliarden Euro“. 2024 soll der Haushaltsposten nur noch 21,3 Milliarden betragen.

Asylandrang verringern – aber wie?

Wie sich der kurz vor Weihnachten vorläufig geschlossene, aber noch nicht im Bundestag verabschiedete Ampel-Kompromiss für Einbürgerungen ab drei Jahren Aufenthalt bei zugleich erleichterten Abschiebungen („Rückführungsverbesserungsgesetz“) und die jüngste Neuordnung des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) auswirken werden, bleibt bis auf Weiteres eine offene Frage. Auf der Basis des GEAS sollen Asylverfahren grundsätzlich auch direkt an den Außengrenzen der EU durchgeführt werden dürfen.

Innerhalb der EU nimmt Deutschland mit Abstand die meisten anerkannten Flüchtlinge auf. Ende 2022 lag die Zahl laut „Statista“ bei über zwei Millionen. Dahinter folgte Polen mit gut 971.000 Aufnahmen. Im BAMF werden laut „Welt“ inzwischen rund 8.000 Mitarbeiter beschäftigt – viermal mehr als noch vor zehn Jahren.

Informationen des „Statistischen Bundesamts“ zufolge lebten im Jahr 2022 unter den 83,8 Millionen Einwohnern „in Deutschland 20,2 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ – 1,2 Millionen mehr als im Vorjahr. „Der Anteil dieser Personengruppe an der Bevölkerung stieg damit um 1,3 Prozentpunkte auf 24,3 Prozent“. Neuere Daten liegen bisher nicht vor.



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